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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
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kommt ihm so vor, als hätten sie über dreißig Jahre in einem vergessenen Winkel seines Kopfes darauf gewartet, wieder hervorgeholt zu werden. Fast wäre es nicht geschehen, aber hier liegt Hans nun und turtelt mit Felizia, hört sich dabei zu und spürt vage die Gegenwart dieser alten Geschichte, in der er vorkommt als einer, der gar nicht so anders war als jetzt, gar nicht so schuldig, gar nicht so hart und unnachgiebig, gar nicht so fehlerhaft. Und das fühlt sich gut an. »Danke, kleine Felizia«, flüstert er und hebt das Baby hoch in seine Arme.
    Dann fällt ihm ein, dass Felizia und er zum Frühstück eingeladen sind. Draußen scheint wieder die Sonne. »Vielleicht bekommen wir einen goldenen Herbst, Feli«, sagt Hans, während er Felizia zur Küche trägt. Dort legt er sie auf den Tisch und bereitet ihre Milch zu.
    Als sie diesmal in Herrn Wenzels Lotto-Toto-Laden kommen, herrscht dort Hochbetrieb. Es ist früh, die Leute kaufen sich Tageszeitungen, bevor sie zur Arbeit gehen. Herr Wenzel winkt Hans zu sich und Hans fühlt sich wie jemand Besonderer, als er hinter die Theke geht und das Hinterzimmer betritt. Das Gefühl verschwindet, als die anderen Leute ihn nicht mehr sehen können. Der Tisch ist reich gedeckt. Dort duftet es nach Kaffee, in einem Körbchen liegen Brötchen und Croissants, daneben stehen Marmeladentöpfchen, rot, orange, blau, auf einem Holzbrett befinden sich verschiedene Käsesorten, zwei Gläser gefüllt mit Orangensaft gibt es auch. Durch das Fenster fällt helles, warmes Licht. Einen solchen Frühstückstisch hat Hans seit langer Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er legt seinen Mantel ab und wickelt Felizia aus, die eingeschlafen ist. Er legt sie auf die Couch und setzt sich neben sie. Nach einer Weile kommt Herr Wenzel herein. »Entschuldige, Hans, dass du warten musstest. Aber morgens ist immer viel los.« Dann reibt er sich die Hände. »Jetzt aber!«
    Er setzt sich Hans gegenüber. Hans will etwas Schönes über den schönen Tisch sagen, aber er kommt sich linkisch vor und hat Angst, dass es nicht echt wirken könnte. So sagt er nichts.
    Sie trinken Kaffee und essen Brötchen mit Butter und Aufstrich. Hans versucht sich wohl zu fühlen, indem er sich nur auf das Frühstück konzentriert. Felizia schläft. Nach einer Weile sagt Herr Wenzel: »Die Mutter leugnet übrigens alles.« Er sagt das im Plauderton, aber Hans starrt ihn verständnislos an, bis er begreift, dass Herr Wenzel von Eva M. spricht. Die Frau mit der Zeitung auf dem Kopf. Die Frau ohne Gesicht.
    Hans möchte das Thema nicht vertiefen. Er sagt: »Aha«, als gehe ihn das nichts an. Herr Wenzel beißt in ein Croissant und sagt mit vollem Mund: »Das ist gut für uns, sehr gut sogar.« Hans sieht dem anderen an, dass er jetzt fragen soll, warum das gut sei. Für uns, denkt er, warum für uns? Er wehrt sich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der Herr Wenzel sich als Felizias Großvater betrachtet. Weil er mich nicht bei der Polizei anzeigt, denkt Hans. Er bereut, dass er das Geld angenommen hat. Aber Herr Wenzel sitzt immer noch da und kaut und wartet. »Warum?«, fragt Hans schließlich wie jemand, der widerwillig etwas hergibt, und Herr Wenzel greift nach dem Orangensaft und sagt: »Denk doch mal nach, Hans: Wenn sie gesteht, dann wird sie der Polizei auch erzählen, wo sie das Baby gelassen hat.«
    Hans erschrickt. Daran hat er noch nicht gedacht.
    Herr Wenzel lächelt ihn jetzt beruhigend an. »Keine Sorge, Hans«, sagt er, »solange sie keine Leiche finden, können sie sie nicht verurteilen. Und sie werden keine finden.« Er lacht vergnügt.
    Hans ist nicht beruhigt. Die Frau mit der Zeitung auf dem Kopf, die Frau ohne Gesicht, die geduckt durch die lauernde Menge geht, als regne es Blicke auf sie herab, diese Frau ist ein schwacher Mensch, das spürt Hans. Er weiß, was Schwäche ist. Er ist selbst ein schwacher Mensch, er hat sich in Eva M. wiedererkannt. Auch er hat seine Familie weggeworfen, nicht mit einem Wurf wie sie, sondern mit vielen kleinen Würfen, die kaum merklich waren, aber über Jahre hinweg ergaben sie einen großen Wurf, einen ganz großen Wurf, denkt Hans zynisch und hätte grinsen mögen, wäre nicht Herr Wenzel, der sagt: »Wir müssen jetzt an andere Dinge denken. Zum Beispiel: Das Kind muss zum Arzt, hast du daran schon gedacht?«
    Nein, daran hat Hans noch nicht gedacht, aber Herr Wenzel hat recht und es fühlt sich allemal besser an, über einen Arzt nachzudenken als über Eva M.,

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