Glückskind (German Edition)
schon niemand mehr Verdacht schöpft. Wenn es so etwas überhaupt gibt. Schuhe und Mantel, Regenschirm nicht vergessen, zur Tür hinaus. Es ist halb zehn, er läutet an der Wohnungstür nebenan.
Frau Tarsi öffnet ihm die Tür. Sie begrüßt ihn freundlich, und da erscheint auch schon Herr Tarsi, fertig bekleidet, ein großer, stattlicher Mann mit frisch gezwirbeltem Schnurrbart, die Enden glänzen noch, einen Hut trägt er auf dem Kopf und einen Gehstock in der Rechten, ganz die alte Schule, denkt Hans. Sie verabschieden sich von Frau Tarsi, Herr Tarsi gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, und sie gehen gemeinsam zum Fahrstuhl. »Hoffentlich werden wir nicht gesehen«, sagt er leise zu Herrn Tarsi.
»Wir fahren in den Keller und steigen dort ins Auto«, sagt Herr Tarsi. Das ist eine gute Nachricht, Hans ist erleichtert. Der Fahrstuhl kommt mit Herrn Wenzel darin. Das passt gut, gemeinsam fahren sie wieder nach unten, drei alte Männer mit einem unsichtbaren Kind. Drei Männer mit einer Mission. Hans schaut in seinen Mantel hinein. Dort steckt Felizia und schaut an ihm vorbei an die Fahrstuhldecke. Hoffentlich schläft sie bald ein, denkt er.
In der hell erleuchteten Tiefgarage begegnen ihnen mehrere Familien, die alle damit beschäftigt sind, ins Wochenende aufzubrechen. Niemand achtet auf sie. Aber da vorne links stehen die Balcis, die Familie des Hausverwalters, um einen roten Van herum, Vater, Mutter und drei Kinder, zwei größere Jungen und ein kleines Mädchen. Herr Balci ist ein wohl genährter Mann, der mit seinem Leben zufrieden ist. Er hat eine Reihe von Prinzipien, und eines davon besteht darin, nie als Erster zu grüßen, sondern stets zu warten, bis die Mieter ihn gegrüßt haben. Hans und Herr Tarsi wissen das. »Guten Morgen, Herr Balci«, sagen sie im Chor, als sie an den Balcis vorbeigehen. Sie tun es, wie man einem bissigen Hund ein Stück Fleisch zuwirft, um ungeschoren zu bleiben. Hans zieht unwillkürlich seinen Bauch ein. Herr Balci grüßt zurück, als sei er eigentlich zu beschäftigt. Das ist auch eines seiner Prinzipien – niemals zu viel Aufmerksamkeit schenken –, und diesmal stimmt es sogar mit der Wahrheit überein, denn seine Tochter will nicht ins Auto und tut dies lauthals kund, während die beiden Jungen auf der anderen Seite darüber streiten, wer in der Mitte sitzen darf. Die Lösung dieser Probleme ist offenbar nicht Frau Balcis Angelegenheit, denn sie hat soeben den Beifahrersitz bestiegen und die Tür geschlossen. Jetzt klappt sie die Sonnenblende herunter, vielleicht um sich im Schminkspiegel zu betrachten. Herr Balci hat also guten Grund, keine Zeit für andere Leute zu haben, aber er ist der Hausverwalter und deshalb wirft er trotzdem immer einen prüfenden Blick auf alle, die ihm hier begegnen, und Hans ist ihm noch nie begegnet, zumindest nicht mit Glatze und ohne Bart und anscheinend sauber. Für Herrn Balci ist Hans eigentlich kein Mieter, sondern eine Art zahlender Hausbesetzer, ein kaum hinnehmbares Paradoxon. Wenn es nach ihm, Herrn Balci, ginge, hätte man Hans längst gekündigt. Weil es aber nicht nach ihm geht, hat er Hans bisher gemieden und sich nur ungern mit ihm befasst. Deshalb hat er auch auf die Beschwerde der Tarsis wegen des Putzdienstes im Hausflur noch nicht reagiert. Als er ihn jetzt erkennt und sieht, dass ausgerechnet Herr Tarsi neben ihm geht, vergisst er seine Kinder und starrt die beiden an. Dann aber entdeckt er Herrn Wenzel, den Besitzer des Lotto-Toto-Geschäfts von gegenüber, und den hätte er bestimmt nicht hier unten in der Tiefgarage erwartet noch wäre er jemals auf den Gedanken gekommen, dass er etwas mit Hans zu schaffen haben könnte. Während die drei Männer weitergehen – Herr Tarsi mit seinem steifen Bein wie ein Kriegsveteran, der gebeugte Herr Wenzel mit seinen vielen kleinen Schritten und Hans seltsam nach hinten gereckt, als befürchte er, vornüberzukippen –, steht der Hausverwalter da und kratzt sich am Kopf und schaut ihnen nach, bis seine kleine Tochter ihn ungeduldig anschreit, dass sie jetzt endlich weitermachen will mit dem Nicht-ins-Auto-Steigen. Sie ist fünf Jahre alt und weiß vielleicht schon, dass ihr Papa ein mächtiger Mann ist, aber sie hat ihre Methoden mit ihm. Er wendet sich ihr wieder zu und fasst den Entschluss, Hans in den nächsten Tagen einen Besuch abzustatten, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.
»Das war knapp«, sagt Herr Wenzel, als er mit Hans im Fond des Wagens der Tarsis sitzt. Es ist
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