Glückskind (German Edition)
Gleisblock. Hans und Herr Tarsi schauen einander an. Sie umarmen sich.
Herr Tarsi sagt: »Darf ich heute den Flur für Sie putzen? Es wäre mir eine Ehre.« Er meint es ganz ernst, aber Hans erschrickt, weil er es schon wieder vergessen hat. Dann lachen die beiden Männer und verabschieden sich.
Hans steigt in den Zug. Er setzt sich in einem offenen Abteil auf eine dunkelrote Sitzbank, ans Fenster, in Fahrtrichtung. Er knöpft den Mantel auf. Er lehnt sich zurück. Er wartet auf die Abfahrt. Immer deutlicher wird ihm jetzt die Unvermeidlichkeit dessen, was er entschieden hat. Immer klarer sieht er, dass es kein Zurückweichen mehr geben kann, keine andere Entscheidung. Hans fährt zu Veronika Kelber, und wenn der Zug nicht entgleist, wenn Hans nicht stirbt in der nächsten Stunde und zehn Minuten, wenn nicht ein Blitz aus heiterem Himmel einschlägt und allem ein Ende bereitet, dann gibt es nichts, was dies verhindern kann: Hans fährt zu Veronika Kelber.
Menschen kommen herein. Manche reden laut, andere sind schweigsam. Ein junges Pärchen setzt sich Hans gegenüber. Sie werfen ihm ein paar scheue Blicke zu, dann beschließen sie, ihn zu ignorieren und setzen ein Gespräch fort, das sie irgendwo begonnen haben, vielleicht auf dem Bahnsteig, vielleicht auf dem Weg zum Bahnhof. Mit einem lauten Knall schließen sich die Türen des Zuges. Ein Pfeifen ertönt. Der Waggon erzittert, als der Zug sich schwerfällig in Bewegung setzt.
Es ist lange her, seit Hans das letzte Mal von hier aus nach Norden gefahren ist. Damals war Bonn noch die Hauptstadt und Deutschland war geteilt. Hans war jung und Karin saß vor ihm mit übereinandergeschlagenen nackten Beinen, die unter ihrem kurzen Rock hervorkamen und so perfekt, so makellos und so schön waren, dass Hans sich vergeblich bemühte, nicht ständig hinzuschauen. Karin schien es zu gefallen, dass er sich kaum beherrschen konnte. Sie lächelte ihn geheimnisvoll an und dann sprachen sie über Politik und soziale Ungerechtigkeit, über Ethik und Moral, über Positionen und Kader, über Altnazis und Spießbürger, über Schmidt und Strauß und Brandt und Wehner und den jungen Kohl, die in ihren Augen alle gleich waren, weil sie alle nur Macht wollten, die ganze Fahrt lang redeten sie sich die Köpfe heiß, und ihre beiden Begleiter, ein Mann und eine Frau, die sich schon gefunden hatten, machten eifrig mit. Und obwohl Hans alles, was er sagte, wirklich dachte und fühlte, half nichts gegen Karins Lächeln, gegen ihre grünen Augen, gegen den Schwung ihrer Lippen und ihre unglaublichen Beine. Als sie in Bonn ankamen, war Hans ganz erschöpft. Von der Demo bekam er kaum noch etwas mit, weil es viel zu voll war, weil er ständig Acht geben musste, Karin nicht im Gewühl zu verlieren, und weil sich in ihm alles nur um dieses Gefühl drehte, das er dort entdeckt hatte, dieses Gefühl, das immer größer und größer wurde und alles andere an die Wand drückte, bis er am Abend, als sie wieder zurückfuhren, nur noch die Augen schließen und so tun konnte, als schlafe er, während die anderen drei weiterdebattierten.
Hans muss lächeln. Was für eine verrückte Zeit war das damals, als sie glaubten, sie könnten das Land oder sogar die ganze Welt verändern, »eine ganze Generation mit einer neuen Erklärung«. Und dann bekam er nicht einmal sein eigenes Leben in den Griff. Aber vielleicht, denkt er, musste alles genau so kommen, damit es mir jetzt gelingt. Wer weiß schon, wozu das Scheitern da ist. Vielleicht ist das Scheitern nur der Beginn einer neuen Fähigkeit, so wie kleine Kinder immer wieder hinfallen, bis sie endlich gehen können. Wenn es so ist, denkt Hans, ist es eigentlich nur wichtig, nicht zu verzweifeln und nicht aufzugeben. Wie ich es lange getan habe, denkt er noch, und dann kehrt er zurück aus der Vergangenheit und schaut wieder aus dem Fenster.
Der Zug hat den Bahnhof Richtung Westen verlassen und fährt an fensterlosen Häuserfronten vorbei, an lang gezogenen Bürobauten, Großbaustellen. Ein weißes Einkaufszentrum gleitet vorüber, die Häuser weichen zurück, vereinzelt stehende Altbauten, neue Wohngebäude, ein vielgleisiger Parkplatz für Züge, der jetzt, mitten am Tag, fast leer ist, ein Sportplatz, eine Lärmschutzmauer mit silbrig glänzender Oberfläche, dahinter eine Eigenheimsiedlung, im Hintergrund die Betontürme einer Trabantenstadt. Wieder Lärmschutzmauern links und rechts, und dann, ganz plötzlich, als sie unter einer Autobahn
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