Glückskind (German Edition)
hindurchfahren, Felder auf beiden Seiten, Lärmschutzmauern, Felder, in der Ferne ein Waldstück, ein erstes Dorf. Und immer wieder Lärmschutzmauern, die die Sicht auf die Landschaft verstellen.
Nach einer Viertelstunde hat der Zug eine lange Kurve beschrieben. Er fährt jetzt nach Norden und lässt die Stadt hinter sich. Hier, auf dem Land, ist der Herbst schon zum Alleinherrscher geworden. Die Felder stehen kahl, die Laubwälder sind nicht mehr grün, manche haben durch den Wind der letzten Tage schon ihre Blätter verloren. Überall liegt welkes Laub. Unaufhaltsam endet der Sommer, werden die Tage kürzer, wandelt sich die Landschaft. Nur die Fichten und die Tannen stehen unbewegt und grün wie immer. Hier und da ragen die Türme kleiner Kirchen in den Himmel, kleine spitzgiebelige Häuser drängen sich um sie, dann wieder Felder, sanfte Hügel, Nadelholzwälder, manche kahl bis unter die Wipfel, als stünden sie auf Stelzen.
Hans ist müde. Das Schaukeln des Zuges lullt ihn ein, die Landschaft, durch die sie fahren, wird eintönig. Er döst vor sich hin. Er träumt. Er hat die Tür im roten Gebirge geöffnet und ist in den Fels hineingegangen. Das Gebirge ist hohl, er steht in einer unendlich hohen Halle und sieht die Unterseite der Gipfel und Täler über sich wie das Negativ eines Reliefs. Er wirft einen Stein gegen die Felswand. Da zerfällt das ganze Gebirge zu Staub, und als er sich legt, steht Hans auf einer weißen Ebene. Über ihm scheint gleißend hell die Sonne, in der Ferne flimmert wie eine Fata Morgana sein früheres Zuhause, die Nummer 30. Ganz allein steht es da, als wären die Häuser links und rechts abgeschnitten. Hans geht darauf zu, und nachdem er eine lange Zeit gegangen ist, steht er endlich vor der Tür. Sie flimmert auch jetzt noch, aber von innen ertönt Kindergeschrei, er hört die Stimme einer Frau, Karins Stimme. Er hebt den Zeigefinger, um auf den Klingelknopf der Tür zu drücken. Als er aufwacht, steht der Zug. Ganz benommen schaut er aus dem Fenster und liest das Ortsschild. Mit einem Schreck stellt er fest, dass er hier umsteigen muss. Er ergreift die Plastiktüte mit der Brause, er rappelt sich hastig hoch und eilt aus dem Abteil, fast springt er hinaus auf den Bahnsteig. Im nächsten Augenblick schließen sich krachend die Türen, das Pfeifen ertönt und der Zug setzt sich erneut in Bewegung.
Hans lehnt sich erschöpft gegen einen Stahlträger. Er atmet tief ein und bläst beim Ausatmen die Backen auf. Das war knapp, denkt er und denkt: du alter Narr, obwohl er das nicht mehr denken wollte.
Hans muss den Bahnsteig wechseln. Das Gleis, auf dem der Zug gehalten hat, ist auf beiden Seiten von hohen Lärmschutzwänden umgeben. Hans wundert sich darüber. Er weiß nicht, dass dies die ICE-Strecke ist, dass die weißen Züge hier mit fast zweihundert Stundenkilometern durchfahren. Er geht zu einer Treppe, steigt hinab und steht an einer Straße. Ein Schild führt ihn an Fahrradständern vorbei zu einer anderen Brücke. Gleis 5. Hier muss er hinauf. Jetzt erst sieht er das alte Bahnhofsgebäude, ein hohes, rechteckiges Gebäude, das mindestens hundert Jahre alt ist, die Halbbogenfenster im Erdgeschoss sind zugemauert, die Eingangstür ist verrammelt. Niemand braucht dieses Gebäude. Über eine Rampe begibt Hans sich zu Gleis 5. In zehn Minuten kommt der Anschlusszug. Hans schaut sich um. Ein Park, mehrgeschossige Wohnhäuser, dahinter alte Häuser. Ein Dorf, das zum Vorort degradiert worden ist. Auf dem Bahnsteig stehen ein paar Schüler und Erwachsene, Menschen, die aussehen, als gehörten sie in diese Gegend. Jetzt ist nicht viel Verkehr, aber heute Abend, wenn sie alle von der Arbeit nach Hause kommen, ist hier bestimmt was los, denkt Hans. Er steht herum, beobachtet einen Vater, der seinen geistig behinderten Sohn davon abhält, zu einer Gruppe Mädchen zu laufen. Der Vater baut sich mit ausgebreiteten Armen vor dem Jungen auf, der immer wieder versucht, an ihm vorbeizukommen. Der Junge ist zwar kleiner als sein Vater, aber so massig, dass Hans sich wundert, warum er ihn nicht einfach umrennt. Aber es ist ja sein Vater, denkt er dann, man rennt seinen eigenen Vater nicht einfach um. Eher läuft man vor ihm davon. Hans sieht, dass der Junge nichts sehnlicher wünscht, als zu den Mädchen zu gehen, er sieht, dass der Junge weint, weil der Vater ihn nicht lässt, er sieht, dass der Vater nichts sehnlicher wünscht, als dass der Junge endlich aufgibt. So sind sie beide gefangen in
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