Glückskind (German Edition)
teilhaben, die von allen gemeinsam erzeugt wird. Sie kochen diesmal ein europäisches Gericht, eine von Hans’ früheren Standardmahlzeiten für Hanna und Rolf: Spaghetti Bolognese. Frau Tarsi hat frisches Hackfleisch mitgebracht. Es gibt nicht viel zu tun, das meiste macht Hans. Während er kocht, macht Frau Tarsi Fotos. Zuerst von Felizia allein, dann, während die Nudeln kochen, muss Hans sich mit ihr ablichten lassen. Als sie fertig ist, nimmt Herr Tarsi die Speicherkarte aus der Kamera und verlässt die Wohnung. Als die Spaghetti al dente sind, kommt er zurück. Die Fotos sind schön geworden. Hans wählt zwei aus, auf denen er mit Felizia zu sehen ist. Bevor sie mit dem Essen beginnen, machen sie noch mehr Fotos. Als die Spaghetti fast kalt sind, stellt Herr Tarsi die Kamera aufs Fensterbrett und sie machen per Selbstauslöser ein Foto von allen: Felizia mit Hans, den Tarsis und Herrn Wenzel. Zur Erinnerung an diese besondere Zeit in ihrem Leben.
Dann essen sie und anschließend gibt Hans Felizia die Flasche, damit sie satt und zufrieden einschläft. Als es so weit ist, tragen sie sie hinüber zu den Tarsis, Hans legt sie in die pinkfarbene Wiege. Er packt die zehn Brausetüten, die Herr Wenzel ihm mitgegeben hat, in eine kleine Plastiktüte, er zieht Herrn Wenzels Mantel an, er steckt den Fahrschein, die Wegbeschreibung, die beiden Fotos in die Manteltasche und sein Portemonnaie in die Innentasche. Er verabschiedet sich von Herrn Wenzel. Sie stehen voreinander und wissen einen Moment lang nicht, was sie tun sollen. Dann umarmen sie einander und Herr Wenzel sagt leise: »Ich wünsche dir viel, viel Glück, Hans. Viel, viel Glück.«
Anschließend umarmt er Frau Tarsi. Sie kann gar nichts sagen, so gerührt ist sie und so sehr hofft sie, dass sich alles zum Guten wenden wird. Er geht mit Herrn Tarsi zum Fahrstuhl, Frau Tarsi und Herr Wenzel winken ihnen noch einmal zu, dann sind sie um die Ecke gegangen. Sie fahren in den Keller und steigen in das Auto der Tarsis. Herr Tarsi lenkt den Wagen geschickt durch die Enge der Tiefgarage, er fährt die Rampe hinauf, biegt in die große Straße ein, Richtung Süden. Der Himmel ist trüb, die Sonne ein großer, gelber Klecks, es ist kühl und es soll noch kühler werden, sagt das Autoradio. Hans sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut hinaus. Er hat fast sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, und doch erscheint sie ihm heute völlig anders. Als wären die Gebäude, die Straßen und sogar die Menschen nur eine Kulisse für seine Geschichte. Es ist das erste Mal, das Hans sich im Zentrum des Lebens fühlt. Es kommt ihm beinahe unwirklich vor.
Nach zwanzig Minuten sind sie am Hauptbahnhof. Herr Tarsi parkt das Auto, dann steigen sie aus und bahnen sich einen Weg durch die vielen Menschen, die in alle Richtungen eilen. So lange ist Hans nicht mehr mit dem Zug gefahren, aber jetzt zählt nur, dass er es tun wird. In dem großen Kopfbahnhof ist es laut, Menschenstimmen mischen sich zu einem Geräuschpegel, der nur von den verschiedenen Lautsprecherstimmen noch übertönt wird.
Hans und Herr Tarsi gehen zu Gleis 14. Es ist noch ein wenig Zeit, der Zug ist noch nicht angekommen. Sie stehen gemeinsam auf dem Bahnsteig und schauen sich um wie kleine Jungen. Auch Herr Tarsi war schon lange nicht mehr hier. Auf dem Gleis gegenüber kommt ein ICE an. Er rollt langsam herein, dann bleibt er mit lauten Bremsgeräuschen stehen. Die Türen springen auf, Hunderte von Menschen steigen aus und machen sich sofort auf den Weg zum Ausgang des Bahnhofs, zur großen Halle. Die Geräusche ihrer Rollkoffer, ihrer Schuhabsätze, ihrer Begrüßungen, das Rascheln ihrer Kleider – alles das ergibt eine besondere Atmosphäre, der sich die beiden Männer nicht entziehen können. Fast zehn Minuten lang dauert dieses Aussteigen, so viele Reisende sind mit diesem Zug angekommen. Dann kündigt eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher die Ankunft des Regionalexpresses auf Gleis 14 an. Die beiden Männer drehen sich um und schauen dem Zug entgegen. Noch ist er nicht in Sicht. Nach ein paar Minuten sehen sie weit hinten, im Gewirr der verschwimmenden Gleise, Masten und Oberleitungen, ein kleines, rotes Quadrat. Das ist die Lokomotive. Sie wird immer größer, während sie von Weiche zu Weiche fährt. Jetzt sieht man auch die Waggons, die sich hinter ihr schlängeln. Im nächsten Moment ist der Zug auf der Zielgeraden angelangt. Dann fährt die Lok an den beiden Männern vorbei und hält ganz vorne am
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