Glückskind (German Edition)
ihrem gemeinsamen Leid. Hans fühlt dieses Leid plötzlich wie einen Schmerz in sich, wie einen Sturz in die Trauer. Dann vergeht das Gefühl, obwohl Hans versucht, es festzuhalten, denn es erscheint ihm wie etwas Kostbares. Noch nie hat er so viel Mitgefühl mit fremden Menschen gehabt.
Der Zug kommt. Hans wusste nicht, was eine Regiobahn ist, er dachte, es sei ein neues Wort für einen alten Zug. Doch es ist eine Art blau-weiß lackierte Straßenbahn, genauso modern und genauso kurz. Die wenigen Menschen, die gewartet haben, steigen schnell ein, Hans fällt fast hinein, denn der Boden des Zugs ist niedriger als der Bahnsteig. Abfahrt. Es geht jetzt in die entgegengesetzte Richtung, aber bald beschreibt der Zug eine Kurve nach Osten. Die Gegend ist dicht besiedelt, schon nach fünf Minuten macht der Zug zum ersten Mal Halt. Auch hier dieselbe Mischung aus alten Häusern und Wohnblocks. Dann geht es weiter, flaches Land, Birkenallee, Fichtenhain, abgeerntete Felder. Plötzlich Menschenleere. Ein Bach schlängelt sich durch ein flaches Tal. Ein Kirchturm in der Ferne, Hochspannungsleitungen bis zum Horizont, ein mächtiger Baum, der ganz allein auf der Flur steht. Bauernhöfe. Wieder ein Halt, wieder ein Dorf. Weiter geht’s, Dorfanger, links mittelständische Betriebe, große Kanalisationsrohre aus Beton stehen herum, rechts der Bach ist zum kleinen Fluss geworden, der enge Kurven zieht, Hainbuchen stehen vereinzelt, um das Ufer zu befestigen, dahinter verstreut Bauernhäuser. Dann wieder große, kahle Felder, abgeschnittene Wälder. Flurbereinigte Landschaft. Nächstes Dorf, nächster Halt. Und weiter. Hochspannungsleitung, Dorfanger, Kirchturm, alte Wohnhäuserund ausgebaute Bauernhäuser. So idyllisch ist es hier, dass Hans das Gefühl hat, er fahre durch einen Themenpark: ›Glücklich sein in Deutschlands‹.
Früher hätte er bloß das Spießbürgerliche, das Kleingeistige gesehen. Aber jetzt bewundert er diejenigen, denen es gelingt hierzubleiben. Der nächste Halt ist die Endstation, die Ansage kommt auf Deutsch und auf Englisch. Sie fahren am Ortsschild vorbei, ein Parkplatz rechts, links alte Häuser. Ankunft. Der Bahnhof ist ein hohes, rechteckiges und weiß getünchtes Gebäude. Nur zwei Bahnsteige sind in Betrieb, ein drittes Gleis ist rostig und von Pflanzen überwuchert. Dahinter erstreckt sich eine Art Waldgebiet mit alten Bauern- und Wohnhäusern. Der Ausgang ist auf der anderen Seite. Hans durchquert das Bahnhofsgebäude. Der Wartesaal ist winzig, eine Ledercouch und drei Stühle stehen hier, ein niedriger Tisch, an der Wand drei Regale voller Bücher. Einen solchen Bahnhof hat Hans noch nie gesehen. Er durchquert den Wartesaal, niemand wartet darin, und tritt auf der anderen Seite hinaus auf die Straße. Er kramt die Wegbeschreibung hervor, die Frau Tarsi ihm mitgegeben hat. Aber es gelingt ihm nicht, sich zu orientieren, die Straße, die hinter dem Bahnhof verläuft, trägt kein Namensschild, die Zeichnung ist zu ungenau. Auf der anderen Straßenseite hängt ein Schild, das nach links weist. Darauf steht ›Agentur für Arbeit. Jobcenter‹. Dorthin will Hans bestimmt nicht. Er fragt eine Passantin. Sie zeigt in die entgegengesetzte Himmelsrichtung und beschreibt ihm den Weg. Hans bedankt sich, er steckt die Wegbeschreibung in seine Manteltasche und geht geradewegs vom Bahnhof weg. Genau in der Flucht steht eine große, weiße Kirche. Rechts liegt ein Gewerbegebiet mit einem Supermarkt und einer Tankstelle für Lkws. Links in einiger Entfernung ein großes Silo. Hans geht über eine Brücke, unter der ein kleiner Bach hindurchfließt. Nach zweihundert Metern geht er über eine größere Brücke, unter der ein breiter Kanal mit träge fließendem Wasser verläuft. Hans schaut nach links. Dort stehen das große Silo und über dem Kanal ein kleines Wehr. Er geht weiter. Die Kirche rückt näher, sie ist erstaunlich groß. Daneben erstreckt sich ein langes, weißes Gebäude, das aus derselben Epoche stammt wie die Kirche. Es muss sich um ein Kloster handeln. Bevor Hans es erreicht, biegt er rechts ab in eine kleine Straße. Sie führt an einem Supermarkt vorbei und beschreibt eine Linkskurve. Jetzt sieht Hans die Kirche von der anderen Seite. Die Straße wird eng, rechts eine moderne Häuserfront, die vollständig eingerüstet ist, links alte Häuschen. Er kommt an eine Kreuzung. Hier biegt er rechts ab und gelangt auf eine Art Hauptstraße. Sie gehört nicht zum historischen Kern, denn ein Schild
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