Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
Vom Netzwerk:
mit der entsprechenden Aufschrift weist nach links. Aber auch hier gibt es keine moderne Architektur, nur Häuser, die mindestens zweihundert Jahre alt sind. Sie stehen nicht dicht gedrängt, sondern säumen die Straße im Abstand von mehreren Metern, dazwischen befinden sich Gartentore oder Garagenzufahrten. Hans sieht ein Rahmengeschäft, einen Optiker, einen Feinbäcker, einen winzigen Supermarkt, eine Pizzeria in einem renovierten Bauernhof, der noch viel älter aussieht. Die Hauptstraße gabelt sich, das hatte die Passantin vorausgesagt. Hans nimmt die linke Straße. Sie führt durch eine seltsame Mischung aus herrschaftlichen Villen aus der Jahrhundertwende, umgeben von großen Gärten mit altem Baumbestand, und modernen Bauten. Vor einem spitzgiebeligen, gelben Gebäude, das weit zurückgesetzt von der Straße liegt, bleibt Hans kurz stehen. Es ist auffallend hoch, die beiden Arkadenbogen an seiner Front wirken viel zu wuchtig. Als er sich dem Gebäude nähert, stellt er fest, dass es ein Vermessungsamt ist. Gleich daneben steht ein moderner Flachbau aus Glasbeton, das Landratsamt. Genau gegenüber fällt ihm ein altes Bürgerhaus mit einem wunderschönen Erker aus Holz auf, vor langer Zeit muss es einmal ein stattliches Familienhaus gewesen sein. Heute ist ein Geschäft für Kfz-Schilder darin untergebracht. Hans geht weiter. Er überquert einen Kreisverkehr mit einem rostigen Kunstwerk in der Mitte. Dahinter ändert sich die Gegend, rechts liegt ein Gewerbegebiet mit einem großen Supermarkt und einem Parkplatz für mindestens hundert Autos. Links eine Art Park. Aber dahinter sieht Hans eine Anzahl von niedrigen und hohen Häusern, die alle im selben Stil erbaut sind, alle weiß getüncht, alle mit roten Giebeldächern, alle mit hohen Sprossenfenstern. Alle hundert Jahre alt. Das ist die Justizvollzugsanstalt.
    Er geht weiter geradeaus, jetzt sieht er über eine halbhohe Mauer hinweg die ersten Gebäude der Justizvollzugsanstalt, es sind die Mehrfamilienwohnhäuser der Beamten, die hier arbeiten. Er erreicht das Pförtnerhaus. Zwei gepflasterte Auffahrten liegen vor ihm, in ihrer Mitte erstreckt sich eine rechteckige Rasenfläche genau mittig hin zu einem breiten, gedrungenen Gebäude. Eine niedrige, höchstens kniehohe Hecke umrahmt den Rasen. Die Hecke ist sehr akkurat geschnitten. Dort, wo der Rasen endet, stehen drei weiße Fahnenmasten nebeneinander. Dahinter verläuft eine schmale Querstraße, und dahinter bildet ein hoher Torbogen, der aussieht, als wären früher Kutschen hindurchgefahren, den Mittelpunkt des Gebäudes. Ein graues, zweiflügeliges und etwa drei Meter hohes Sprossentor verschließt den Bogen. Wer auch immer dieses Ensemble inszeniert hat, er war ein Liebhaber der Symmetrie. Einzig der Wein, der die weiße Fassade zur Hälfte überwuchert hat und dessen Blätter jetzt, im Herbst, leuchtend rot geworden sind, durchbricht die Strenge der Linien. Links und rechts in der Fassade sind je zwei hohe Sprossenfenster eingelassen. Genau über dem Torbogen befindet sich der Quergiebel. Seine beiden Fenster sind kleiner und die vier Dachfenster links und rechts wirken, verglichen mit den Fenstern im Erdgeschoss, winzig. Man könnte meinen, es wäre ein umgebautes Bauernhaus, denkt Hans, denn er hat auf dem Fußweg hierher ähnliche Häuser gesehen. Dann bemerkt er, dass die Fenster im Erdgeschoss, im Giebel und im Dach vergittert sind. Links und rechts des Gebäudes zieht sich eine hohe, graue Mauer entlang, auf ihrer Krone liegen genau die gleichen roten Dachziegel, mit denen das Haus gedeckt ist. Rechts hinter der hohen Mauer sieht man den schlanken Turm einer Kirche.
    »Genug geschaut«, sagt Hans zu sich selbst und geht über die linke Auffahrt auf das Gebäude zu. Er ist nervös, plötzlich macht ihm die Vorstellung, ein Gefängnis zu betreten, Angst. Als könnte irgendjemand entscheiden, dass er, Hans, dortbleiben muss, als könnten die Beamten, die hier arbeiten, an seiner Furcht ablesen, dass er schuldig ist. Hans kennt dieses Gefühl, er hat es immer, wenn die Polizei ihm zu nahe kommt. Als er jung war und an die Revolution glaubte und für sie mit Tausenden Gleichgesinnten auf die Straße ging, begleitete ihn stets die dunkle Ahnung, in Wahrheit ein Krimineller zu sein, der gegen die rechte Ordnung verstößt. Vielleicht weil ich mich um die falsche Revolution gekümmert habe, denkt Hans. Er hat das Tor erreicht. Rechts steht auf einer breiten Messingplakette ›Justizvollzugsanstalt‹.

Weitere Kostenlose Bücher