Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Poesiealbum, der erste Kuss, das erste Mal Schule geschwänzt, das erste Mal verliebt – jeder Tag bietet einen neuen Höhepunkt im Leben. Doch die werden mit der Zeit immer seltener. Das erste Auto, der erste richtige Job, das erste Kind, das erste zweite Kind, die erste Beförderung … das erste Mal ein Freund gestorben … das war’s. War’s das? Wir wissen ja heute schon, wie unsere Geburtstagsfeier in zehn oder zwanzig Jahren aussieht: genauso wie heute, nur mit Stock.
Die israelische Psychologin Professor Dinah Avni-Babad hat das Phänomen zusammen mit ihrer Kollegin Ilana Ritov untersucht und |128| folgenden Lösungsvorschlag gefunden, wie man der Entwicklung ein Schnippchen schlagen kann: Wenn wir die Zeit dehnen wollen, müssen wir die Alltagsroutine unterbrechen, uns neuen Erfahrungen aussetzen und unser Leben ständig auf den Kopf stellen. Es liegt nicht daran, dass die Möglichkeiten weniger werden. Der Wille erlischt. Wir verwenden zu viel Kraft aufs Überleben. Deshalb haben wir keine mehr zum Leben. Wollten wir das ändern, müssten wir uns permanent neuen Dingen aussetzen. Das klingt bestechend einfach. Ist es auch. Aber es ist trotzdem nicht leicht. Denn es erfordert erheblichen Aufwand und erheblichen Mut. Aber wir sind faul. Und ängstlich.
Ich wollte der Routine entkommen, drum bin ich umgezogen in die Schweiz. Plötzlich benötige ich Energie für Alltagssituationen: die Butter, die in der Schweiz ganz anders verpackt ist, im Kühlregal suchen, Müllmärkli auf den Hausmüll kleben, neue Preise, Werte und Franken lernen …
»Heute in 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du versäumt hast, als über die, die du getan hast«, sagte Mark Twain, der mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn zwei Figuren geschaffen hat, die uns in ihren Geschichten vorleben, was er mit diesem Spruch gemeint hat. Diese Einstellung dem Leben gegenüber würde dafür sorgen, dass unsere Tage voll bleiben mit vielen ersten Malen. Die Dringlichkeit des Lebens bliebe uns erhalten, die Tage blieben lang.
Ein Schiff ist nicht für den sicheren Platz im Hafen gemacht. Genauso wenig sind wir für den sicheren Platz auf dem Sofa vor dem Fernseher gemacht. Genau da hocken wir aber. Und das nicht nur aus Faulheit und Angst. Auch aus Überdruss:
Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Bank, die Ihnen automatisch jeden Tag 86 400 Euro gutschreibt. Einzige Bedingung: Sie dürfen sie nicht ansparen. Sie müssen alles an einem Tag ausgeben, sonst verfällt es. Keine schlechte Situation, oder? Anfangs klappt das mit dem Ausgeben noch ganz gut, das macht große Freude. Aber irgendwann lässt die Faszination nach. Sie wissen irgendwann schlicht nicht mehr, was Sie damit anstellen sollen. Alle Leute rufen Ihnen zu: Gib es aus! Lass es nicht verfallen! Spende es wenigstens! Aber immer |129| öfter lassen Sie Fünfe gerade sein, der Tag geht zu Ende, das Geld ist weg. Na, macht ja nichts, am nächsten Tag kommt ja schon die nächste Überweisung, richtig? Ja, richtig, das ist tatsächlich immer so. Hm. Fast immer. Denn an einem Tag hört die Bank auf, Geld zu überweisen. Für immer.
Sie haben eine solche Bank. Nur die Währung ist eine andere. Sie bekommen jeden Tag 86 400 Sekunden geschenkt. Und Sie lassen regelmäßig die meisten davon verfallen, stimmt’s? Das ist täglicher Selbstmord!
Es geht immer um Leben und Tod.
Der Tod findet täglich statt. Denn wir sterben täglich, täglich ein kleines Leben, das wir »Tag« nennen. Aus vollem Herzen sage ich: Es geht immer um Leben und Tod.
Das Leben verhofft
Auf Deutschlands Schienen sind ungefähr 25 000 Lokführer unterwegs. Statistisch trifft es jeden von ihnen zwei Mal im Leben. Kurz nach dem Freitod Robert Enkes hat sich die Zahl der Bahnsuizide für einige Zeit verdreifacht. Insgesamt zählt die Statistik in Deutschland alle 53 Minuten einen Tod von eigener Hand, ob mit Rad und Schiene oder auf andere Weise.
In unserer Welt haben sich die Methoden der Menschen, Beziehungen zu gestalten, besonders drastisch verändert. Was für Freizeitgestaltung, Job- oder Partnersuche schon länger gilt, gilt auch für den Tod. Selbstmörder starben früher meistens einsam, dank Web 2.0 heute in trauriger Gesellschaft.
»Suche Partner«, hieß es knapp im Bulletin-Board einer japanischen Underground-Website. Zwei Wochen nach seinem Online-Inserat fand die japanische Polizei die Leiche des Inserenten zusammen mit denen zweier anderer junger Männer in einem
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