Glueckskinder
längst gestellt. Unser emotionaler Haushalt, unser seelisches Wohlbefinden war durch die positive Resonanz unserer Umgebung bestimmt. Es waren die verlockenden Fallen des scheinbaren Glücks, in die wir hineingerieten: Unser Glück war außen zu finden! Und einmal auf den Geschmack gekommen, wollten wir immer mehr davon. Ohne es zu merken, hatten wir statt des Glücks eine kleine Ersatzbefriedigung gefunden und sie zum Teil unserer Glücksstrategie gemacht. Auf diesem Weg sind wir dann weiter fortgeschritten.
Es ist erstaunlich, jedes Jahr zu erleben, wie hunderttausende Jugendliche zu einem Wettbewerb der Bewerbungen um Ausbildungsplätze, Studienplätze oder Praktika antreten. Nicht nach den wirklichen Talenten und Herzenswünschen, sondern je nachdem, wie Pädagogen Leistungen zuvor bewerteten, machen sie sich auf den Weg mit einem Zeugnis ihrer abgelieferten Gesamtleistungen, das sie mit einem Numerus clausus entweder gut oder aber gar nicht ausstattet. Und je näher der Spätsommer rückt, in dem alle ihre neuen Lebensetappen beginnen sollen, desto höher ist der Druck, noch möglichst gut unterzukommen, desto höher sind die Abstriche an den eigentlichen Berufstraum und die Aussicht eines wirklich glücklichen Arbeitsalltags, desto höher die Kompromissbereitschaft, Hoffnungen, Träume und Talente fahren zu lassen.
Auf diesem Holzweg kommen wir uns selbst und damit unserem Glück abhanden. Juristisch betrachtet ist es eine äußerst wichtige Angelegenheit, über etwas ein Zeugnis abzulegen. Wenn wir als Zeuge auftreten, ist vor allem unsere Integrität und Unbestechlichkeit gefragt. Wer Zeugnis ablegt, muss die Wahrheit sagen, stimmt’s? Doch welche Wahrheiten fanden wir in unseren Schulzeugnissen? Gar keine. Denn auf unseren Zeugnissen steht nicht: »Das Kind ist im Biologieunterricht immer besonders glücklich, es liebt die Tiere, und im Sport hat es das Talent, andere Kinder durch häufige Ballabgaben während des Turniers glücklich zu machen.« Da steht nicht: »Du bist der Sozialarbeiter der ganzen Oberstufe. Daher ist es nicht schlimm, dass du in Physik nicht so gut aufpasst.« Und da steht auch nicht: »Wir ziehen den Hut vor dir, weil du trotz der zerrütteten Ehe deiner Eltern und trotz der relativen Verwahrlosung innerhalb deiner Familie deinen Mitschülern ein erstaunlich guter Freund geworden bist und sich ein jeder auf dich verlassen kann.«
Wie gern würde ich den Kindern unserer Gesellschaft Zeugnisse ganz anderer Art überreichen, Zeugnisse, in denen sie sich wiederfinden können und die ihnen helfen, einen glücklichen nächsten Schritt in ihr Leben gelingend zu gestalten. Verzeihen Sie mir bitte diese kleine Träumerei.
Und wenn unsere Schulzeit dann endlich vorbei ist, werden wir weiterbewertet – vom Konzern, vom Chef, von den Kollegen, von uns selbst. Es ist vollbracht: Wir sind auf einem lebenslangen Holzweg angekommen. Wenn wir uns anstrengen, verdienen wir mit unserer Arbeit gutes Geld. Wenn wir uns weiter anstrengen, kaufen wir uns vielleicht ein Haus und machen weitere Anschaffungen, bis wir unter den finanziellen monatlichen Belastungen fast zusammenbrechen.
Zugegeben: Es ist ein schönes Gefühl, ein Haus besitzen zu dürfen. Es macht Spaß, in ein Traumauto zu steigen, und ein Fernseherlebnis wird mit einem Soundsystem noch besser. Ein gewisser materieller Standard erhöht die Lebensqualität, nicht aber das Glück. Verhielte es sich so, dann würden wir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Strahlen herauskommen, wären wir allesamt sahneschleckende Kätzchen, die dieses Glück, diese komplette innere Zufriedenheit weltumarmend in uns trügen. Was wir aber nicht tun. Im Gegenteil: Viel zu oft ertragen wir die Umstände unserer großen und kleinen Lebensqualitäten. Die monatlichen Raten für unser Häuschen lesen sich im Kontoauszug wie eine Vermisstenmeldung, während man sich fragt, wie viel Monat am Ende des Geldes noch übrig ist. Unser makelloses Traumauto hat seine erste Schramme bekommen. Getrübtes Glück? Und je mehr wir besitzen, um unseren Lebensstandard zu erhöhen, desto unfreier werden wir. Wir sitzen dann buchstäblich eingesperrt zwischen den Dingen, für die wir eine Verantwortung übernommen haben. Schließlich müssen sie geputzt, gepflegt, repariert und gelegentlich erneuert werden. An dieser Stelle sollte man sich die Frage stellen: Wer hat hier eigentlich wen gekauft?
Wenn ein gehobener Lebensstandard also nicht unbedingt zufriedener macht,
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