Glücksregeln für den Alltag
zwei Polen finden - mit zu viel Herausforderung an dem einen Ende und zu wenig an dem anderen. Sind die gestellten Aufgaben zu schwierig, fühlt man sich gestresst und belastet, was die Arbeitsleistung verschlechtert. Bieten die Aufgaben zu wenig Herausforderung, langweilt man sich, was die Arbeitszufriedenheit ebenfalls beeinträchtigt und die Leistung behindert.
Angesichts der eminent wichtigen Rolle von Langeweile und Herausforderung brachte ich dieses Problem in meinen Diskussionen mit dem Dalai Lama vor. Ich sagte: „Aus meinen Gesprächen mit meinen Freunden und aus der wissenschaftlichen Literatur zur Arbeitszufriedenheit geht hervor, dass Langeweile eine ziemlich weit verbreitete Ursache für Unzufriedenheit bei der Arbeit ist.“
Er nickte und meinte dann: „Ich denke, es ist ganz natürlich, dass Menschen sich langweilen, wenn sie eine monotone Tätigkeit ausüben. An einem bestimmten Punkt setzt eine Art Überdruss ein, eine Art Abneigung, ein Widerwille. Die Begeisterung für die Tätigkeit ist dann weg.“
„Erleben Sie das selbst auch manchmal?“, fragte ich.
„Ja“, erwiderte er und lachte. „Beispielsweise führte ich vor kurzem ein zweiwöchiges Retreat über Avalokitesvara 3 durch; dazu gehörte das Rezitieren eines sechssilbigen Mantras und als Abschluss, zur Beendigung des Retreats, musste ich drei Tage lang ganz bestimmte Ermächtigungsrituale durchführen. Es sind sehr langwierige, komplizierte Rituale, und am dritten Tag, als sich das Ende näherte, dachte ich die ganze Zeit: ,Ein Glück, dass ich das morgen nicht mehr tun muss’. Ich freute mich darüber, dass es vorüber war. So zu denken, ist für Menschen etwas ganz Natürliches.“
„Wie gehen Sie persönlich damit um?“
„In meinem eigenen Fall üben sowohl meine allgemeine Einstellung zum Leben und zur Arbeit als auch meine grundlegende Gemütsverfassung einen großen Einfluss aus. Jeden Morgen reflektiere ich zum Beispiel intensiv einen Vers, der von dem bedeutenden, im siebten Jahrhundert lebenden indischen buddhistischen Meister Shantideva stammt. Er beginnt so: ,Solange das Weltall besteht…’ Kennen Sie den Vers?“
„Ja“, erwiderte ich.
Er rezitierte weiter:
„Solange das Weltall besteht
Solange es fühlende Wesen gibt
Solange möge auch ich bleiben
Und das Elend der Welt vertreiben.
Für mich persönlich ist dieser Vers immer eine wundervolle Quelle der Inspiration. Ich sinne auch noch über andere ähnliche Verse nach, wie über die Hymnen an die Grüne Tara, die vom Ersten Dalai Lama Gendun Drup verfasst wurden, mich zutiefst inspirieren und mich immer wieder in der Hingabe an das altruistische Ideal bestärken.
Ich rezitiere diese Verse, denke darüber nach und nehme mir vor, dass ich meinen Tag so gut wie möglich dem Wohlergehen anderer Lebewesen widme. Dann widme ich mich ganz bewusst dem Gedanken, dass ich fähig bin, mein ganzes Leben mit der Erfüllung dieses Ideals zu verbringen. In diesen Worten von der Unermesslichkeit der Zeit, von der in Shantidevas Gebet, Solange das Weltall besteht...‘ die Rede ist, steckt eine enorme Kraft. Diese Vorstellung von der Unermesslichkeit der Zeit und diese grenzenlose Hingabe sind von höchster Bedeutung.
Ab und zu werde ich mit einer Situation konfrontiert, in der ich Gefahr laufe, einen gewissen Widerwillen zu entwickeln und zu denken: ,Oh, jetzt muss ich das tun, was für eine lästige Aufgabe.’ Heute musste ich mir zum Beispiel die Sitzungsberichte des tibetischen Exilparlaments anhören und anfänglich war dieses Gefühl in mir: ,Oh, jetzt muss ich das tun, was für eine lästige Aufgabe’, aber gleich darauf erinnerte ich mich selbst daran, dass auch das Teil meiner Arbeit ist, dem Wohlergehen anderer fühlender Wesen zu dienen. In dem Augenblick, wo ich diese Verbindung herstelle, verschwinden dieser Widerwille und dieses Desinteresse sofort.
Aber natürlich ist das nur meine eigene Art und Weise, mit diesen Situationen umzugehen, sie muss keineswegs für jeden gelten.“
Gewiss muss die Methode des Dalai Lama, mit Langeweile umzugehen, nicht für jeden gelten - denn schließlich sind nur wenige Menschen buddhistische Mönche oder Führer des tibetischen Volkes. Aber es ist ebenso sicher, dass das zugrunde liegende Prinzip für uns alle gelten könnte: das Wiederentfachen des Enthusiasmus und das immer neue Bewusstmachen der Hingabe, indem man sich den weiteren Zweck der eigenen Arbeit vergegenwärtigt.
Als ich noch darüber nachdachte,
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