Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
meine Blicke über das flache Gelände gleiten.
Wenn mich nicht alles täuschte, gab es nur noch einen Spitzenreiter, der mit großen
Schritten dem Wäldchen zustrebte; sein Verfolger hatte bereits beträchtlichen Abstand.
Dahinter die geballte Frauenpower. Wie viele waren es noch? War Katinka dabei? Gewissheit
erhielt ich erst, als sie den Wald wieder verließen. Das Führungsduo von vorhin
war gesprengt, widerstand aber als Einziges noch dem Angriff der Damen. Katinka
… ja, sie war mit von der Partie. Birthe einen Schritt hinter ihr, vorn Kim, am
Ende Anja und Viola vom Rhein. Fünf Frauen noch. Und sie kämpften, alle fünf. Das
hier war kein Trainingslauf mehr, kein lockerer Testwettkampf – es war ein Ausscheidungsrennen.
Katinkas Arme schwangen wie ein Uhrwerk vor und zurück, ihre Gesichtszüge waren
hart, der Mund leicht geöffnet. Die lange Birthe wackelte mit dem Oberkörper und
verzog ab und zu die Lippen, während sie lief, doch sie wich keinen Zentimeter aus
Katinkas Windschatten. Am frischesten wirkte Kim Starke, der man ansah, dass sie
jamaikanische Wurzeln hatte; unter ihrer kakaobraunen Haut arbeiteten die Muskeln.
Hinten hängten sich die beiden Nesthäkchen mit dem Mut der Verzweiflung rein.
Und die
Trainer auf ihren Fahrrädern? Plauderten immer noch über Gott und die Welt.
»100 Meter
nach hinten!«, rief ich Katinka zu. »Das sieht gut aus. Gib alles!«
Gerade noch
rechtzeitig hatte ich eine Läuferin entdeckt, die ursprünglich zu Katinkas Gruppe
gehört hatte. Auch so ein junges Ding, das sich quälen konnte bis zum Umfallen.
Den Kontakt zu ihren Kolleginnen hatte sie verloren, war aber auf die beiden Jungs,
die in Runde 1 noch vor der Gruppe gelegen hatten, aufgelaufen. Ob sich wenigstens
die zwei an der Spitze halten würden? Zur Ehrenrettung meines Geschlechts hoffte
ich es.
Das Feld
war nun deutlich weiter auseinandergezogen als zu Beginn. Dafür erschwerten die
Überrundungen den Überblick. Wer jetzt, zum Ausgang der ersten Runde, überholt wurde,
lief mehr als doppelt so langsam wie die Sieger. Gab es eigentlich ein Zeitlimit
bei diesem Halbmarathon?
Herrje,
die Zeit! Ich sah auf die Uhr: 24 Minuten zeigte sie an, und Katinkas Gruppe war
bestimmt schon vor einer halben Minute an der Stelle von vorhin vorbeigekommen.
Sie waren also schneller unterwegs als geplant. Und trotzdem noch zu fünft!
Wieder startete
ich meine Aufmunterungsaktion, wieder applaudierte ich den Verfolgern. Nicht schlecht,
Alter, dachte ich, wenn ich mal wieder einen entdeckte, dem ich so eine Leistung
nicht zugetraut hätte; nicht schlecht – aber meine Katinka ist besser!
Der Lange
zum Beispiel, der dort angeschlackert kam, hatte bestimmt 15 Jahre mehr als ich
auf dem Buckel. Hechelte zum Gotterbarmen und hielt sich doch unter den besten 50.
Respekt! Obwohl, vielleicht war er auch jünger. Mit seiner sattbraunen faltigen
Haut und den blonden Stoppelhaaren ließ sich der Typ schwer einordnen.
Ganz zu
schweigen von seinem Gesicht, dem die Brauen fehlten.
Mit offenem
Mund starrte ich dem Läufer hinterher. Keine Brauen! Moment, Moment, sollte das
etwa … Verdammt, es konnte nicht sein! Unmöglich! Karlsruhe war viel zu weit weg.
Dort die Halle, hier der Halbmarathon …
Aber warum
eigentlich nicht? Warum konnte es nicht sein? Ich war doch auch hier.
Ja, ich
war hier, und endlich, endlich setzte ich mich in Bewegung. Stellte den Kaffeebecher
ab, lief los, zögerte, beschleunigte wieder. Er war es, ganz klar. Ich sah ihn nur
von hinten, aber ich erkannte ihn. In 20 Jahren noch würde ich den Typen wiedererkennen.
Seine Figur, seinen Nacken, den eiförmigen Kopf. Von den fehlenden Brauen ganz zu
schweigen.
Ich blieb
stehen. Weiterlaufen war sinnlos. Gleich hatte er das Dorf erreicht und mit ihm
Hunderte von Zeugen. Was sollte ich tun? Ich musste ihn zur Rede stellen. Falls
er mich ebenfalls erkannt hatte, würde er nach dem Zieleinlauf sofort verschwinden.
Womöglich würde er den Lauf vorher abbrechen.
Aber er
hatte mich nicht erkannt. Dafür wollte ich meine Hand ins Feuer legen. Der Typ war
so mit Keuchen und Schwitzen und Durchhalten beschäftigt, dass er an der Bundeskanzlerin
hätte vorbeitappen können, ohne sie zu bemerken. Wenn er das Rennen vorzeitig beendete,
dann garantiert aus Erschöpfung.
Und wenn
nicht? Dann musste ich handeln. Rasch, unkonventionell. So eine Gelegenheit kam
nie wieder.
Unschlüssig
tappte ich zurück. Plötzlich sah ich einen Läufer am Wegesrand stehen, beide
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