Glut der Gefuehle - Roman
könnte unbemerkt hereinschleichen und vor Tagesanbruch ein paar Stunden schlafen.«
»Hast du unterwegs keine Rast gemacht?«
»Nein, ich bin von London aus direkt hierher geritten. Ohne Pause.«
Southerton unterdrückte ein Gähnen. »Dann bist du wohl nicht in dieser Gegend, um dein Erbe zu begutachten. So dringend kann das nicht sein.«
»Vielleicht schaue ich mich später dort um. Warst du auf dem Landgut?«
»Gestern Morgen ritt ich daran vorbei.« Erst vor so kurzer Zeit? South hatte das Gefühl, mehrere Tage seien verstrichen, seit er auf Griffin über die schneebedeckten Felder galoppiert war, über Westphals ausgedehnten Grundbesitz, an dessen einer Ecke das Cottage lag. »Ich glaube, dein Bruder hält sich gerade im Haus auf.«
Desinteressiert winkte West ab. »Falls du mich nicht zu erschießen planst – hättest du die Güte, die Pistole zu senken?«
Verblüfft schaute South auf die Waffe hinab, die tatsächlich auf seinen Freund zielte. Dann legte er sie grinsend
neben die Lampe, rückte einen Stuhl heran und setzte sich. »Geht es um Elizabeth?«
»Nein, sie ist wieder mit North in London. Ich habe die beiden noch nicht gesehen, aber East findet das junge Liebesglück geradezu unanständig.«
»Also hat sich alles zum Guten gewendet.«
»Ja, vielleicht.« West misstraute allen romantischen Irrungen und Wirrungen.
South hatte stets angenommen, diese Skepsis läge an seiner Kindheit und Jugend, an seinem Status als illegitimer Sohn. Nun fragte er sich, ob es nur damit zusammenhing. Schon immer war Marchman zurückhaltend gewesen – auf seine Weise genauso isoliert wie India. »Wenn du deinem Bruder nicht den gesamten Westphal-Besitz entreißen willst – warum bist du hier, mein Freund?«
West zeigte auf seine Tasche, die an der Wand lehnte – neben zwei zusammengerollten Leinwänden, die er mit einer braunen Schnur umwunden hatte. »Darauf stieß ich, als ich einen Auftrag für den Oberst erledigte. Und nachdem ich sie ihm gezeigt hatte, schickte er mich zu dir.«
»Sind das Landkarten?«
»Nein.« Der Viscount wollte aufstehen, aber West beugte sich vor und legte eine Hand auf Southertons Arm. »Warte, ich hol sie dir«, sagte er, erhob sich vom Sofa und durchquerte das Zimmer. »Schläft Miss Parr?«
Wahrscheinlich steht sie am Treppenabsatz und hört uns zu, dachte South. Doch es wäre ungalant, das zu erwähnen. »Falls wir sie nicht geweckt haben.« Zumindest verriet er mit dieser Antwort nicht, wo sich India befunden hatte – nämlich in seinem Bett. Etwas verspätet registrierte er, dass Westphal eigentlich gar nicht wissen sollte, mit wem er nach Ambermede gefahren war. »Hat dir der Oberst erzählt, wer sich in meiner Obhut befindet?«
»Nur widerstrebend, das versichere ich dir. Ich hatte keine Ahnung, welch ein Heimlichtuer du bist...« In jeder Hand eine Rolle, kehrte West zu South zurück. »Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Aber der Oberst dachte, du könntest dir einen Reim darauf machen.« Er legte eine der Rollen in die ausgestreckte Hand des Viscounts, ließ allerdings nicht gleich los und warf einen Blick in Richtung der Treppe. »Wahrscheinlich ist es sogar vorteilhaft, dass du meine Ankunft gehört hast. Sonst gäbe es morgen früh womöglich Schwierigkeiten.«
»Weil Miss Parr hier ist?« West nickte, und South lauschte. Falls India tatsächlich auf der obersten Stufe stand, verhielt sie sich erstaunlich ruhig. Erriet sie, was West ihm übergab? Unwahrscheinlich, überlegte South. Immerhin sah sie nicht, was er in Händen hielt.
Neugierig entfernte er die braune Schnur. Erst jetzt erkannte er, um was es sich handelte – eine Leinwand. Während er sie auseinanderrollte, wurde ihm nur vage bewusst, dass West einen Schritt zurücktrat.
»Oh Gott!«, flüsterte South beim Anblick des Gemäldes. Angesichts der leuchtenden Farben musste er blinzeln. Vor dem Hintergrund einer Chaiselongue, mit saphirblauem Damast bezogen, funkelte Indias weizenblondes Haar wie reines Gold. Dazu bildeten rubinrote Samtvorhänge einen faszinierenden Kontrast. India hatte einen schlanken Arm ausgestreckt, als wollte sie die schweren Stoffbahnen zurückziehen und einem schmalen Sonnenstrahl Einlass gewähren. Sonst existierte keine Lichtquelle in dem Raum, den Margrave gemalt hatte. Keine Lampe. Keine Kerzen. Kein Kaminfeuer.
Stattdessen ging aller Glanz von India aus. Den anderen Arm hinter dem Kopf, ein Bein angezogen, lag sie nackt auf der Chaiselongue. Wie Perlmutt
Weitere Kostenlose Bücher