Glut der Gefuehle - Roman
Erkennen. Offenbar wusste sie nicht, wo sie sich befand.
»Was?« Sie blinzelte beunruhigt. »Oh... ach ja, ich bin eingeschlafen, nicht wahr? Seltsam... das ist mir noch nie passiert.« Diese letzten Worte sagte sie eher zu sich selbst. Verwundert legte sie den Kopf schief, so als würde sie ihre eigene Stimme aus weiter Ferne hören.
South stieg aus dem Wagen. Dann umfasste er Indias Hand und half ihr heraus. Der Kutscher eilte zu dem schlichten grauen Steinhaus, das sie bewohnte, und betätigte den Messingklopfer. Nur wenige Sekunden später wurde die Tür von einem verwirrten jungen Dienstmädchen
geöffnet. Als die Herrschaften die Schwelle erreichten, verneigte er sich und ging zur Droschke zurück.
Die Brauen leicht hochgezogen, musterte India das verrutschte Häubchen der Dienerin. Diese Miene wirkte missbilligend und tolerant zugleich, was South amüsiert feststellte. Nachdem er die Schauspielerin in ein Wohnzimmer geführt hatte, das im Erdgeschoss lag, wandte sie sich zu dem Mädchen und bestellte einen leichten Imbiss. Dann war sie mit ihrem Besucher allein.
»Nehmen Sie bitte Platz«, forderte sie ihn auf. »Machen Sie es sich doch bequem.«
So, wie sie die Einladung aussprach, entstand der Eindruck, sie wüsste nicht, ob er die Umgebung komfortabel finden würde. Doch das tat er. In welchen Verhältnissen sie leben mochte, hatte er sich nicht vorgestellt – vielleicht, weil er nicht erwartet hatte, ihr Heim jemals zu betreten.
Der Raum war spärlich möbliert, mit einer Chaiselongue, einem Queen-Anne-Sofa und einem Sessel vor dem Kamin, der nicht aus edlem, grün geädertem Marmor bestand, sondern aus Gips. Vor dem blauen Anstrich der Wände und der dunklen Täfelung schimmerte das Sims schneeweiß. Zwei runde Tische mit Klauenfüßen befanden sich in angenehmer Reichweite von allen Sitzgelegenheiten. Auf einem stand ein Nähkorb, auf dem anderen lag ein Bücherstapel. Ein schmales Sideboard, eine Fensterbank und ein Wandtischchen neben der Tür, das eine blaue Delftervase mit Treibhausblumen schmückte, vervollständigten die Einrichtung.
Neben diese Vase legte Southerton seinen Hut und die Handschuhe. Als er den Mantel aufknöpfte, eilte Miss Parr zu ihm. Verspätet erkannte sie, dass ihr unzuverlässiges Dienstmädchen ihrer Pflicht nicht nachgekommen
war. Der Viscount hob beschwichtigend eine Hand und legte den Mantel über die Lehne der Chaiselongue. Langsam wanderte er umher, inspizierte hier eine Porzellanfigur, dort den Titel eines Buchs. Dabei spürte er Indias misstrauischen Blick, der ihn nicht im Mindesten störte.
»Welch ein hübsches Zimmer, Miss Parr«, bemerkte er.
»Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Man hat mir gesagt, für die wenigen Möbel sei der Raum zu groß. Aber ich möchte nichts dazustellen.«
Lässig zuckte er die Achseln. »Dann sollten Sie’s nicht tun. In diesem Zimmer müsste vor allem das Licht des späten Vormittags ein Genuss sein.«
»Oh ja, hier lese und zeichne ich. Manchmal nähe ich auch.«
South nickte und betrachtete den Inhalt des Nähkorbs. »Oder Sie empfangen Gäste?«
»Nun|... nein|...« Hastig sank sie auf das Sofa, wobei ihr der Schal von der Schulter rutschte. Obwohl sie fröstelte, zog sie ihn nicht nach oben. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe selten Besuch. Da ich so oft mit Menschen zusammenkomme, bin ich in meinen eigenen vier Wänden lieber allein.«
»Aber nicht einsam?«
»Nein.« Nur hin und wieder, ergänzte sie in Gedanken. In ihrer Garderobe, von Bewunderern umringt, oder auf der Bühne, wenn sie den enthusiastischen Applaus ihres Publikums entgegennahm, fühlte sie sich viel einsamer. Das war sonderbar, und sie wollte es nicht einmal sich selbst eingestehen, geschweige denn einem Fremden.
Und er war ein Fremder, obwohl er ihr seltsam vertraut erschien. Unsinn, schalt sie sich, es waren bloß fantasievolle Träume... Indem sie ihn hierher einlud, ging sie ein großes Risiko ein – allerdings kein so großes, wie es ein
nicht eingeweihter Beobachter vermuten mochte. Eher ein kalkuliertes Wagnis. Wenn sie sich nicht täuschte, würde der Viscount auf ihre Initiative warten. Wenn nicht – nun, dann musste sie sich damit abfinden, dass sie ihn nie wiedersehen durfte – wozu es wahrscheinlich so oder so kommen würde.
South schlenderte zum Kamin und schürte das Feuer, damit es etwas mehr Licht und Wärme spendete. »Ich wusste nicht, ob Sie meine Einladung annehmen würden. Und dann war ich ziemlich
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