Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
besser nachvollziehen, als Merripen es je für möglich gehalten hätte. Vielleicht kannte Leo nicht das gesamte verworrene Ausmaß von Merripens Vergangenheit oder das komplizierte Chaos seines Charakters, das ihm verbot, die Frau zu heiraten, die er liebte. Aber Leo kannte eine einfache Wahrheit, die alles andere in den Schatten stellte.
Das Leben war zu kurz.
»Verdammt«, murmelte Leo und schritt unruhig auf und ab. Er hätte es vorgezogen, ein Messer zu nehmen und sich eigenhändig ein Stück Fleisch aus den Rippen zu schneiden, als das zu sagen, was nun gesagt werden musste. Doch er hatte das untrügliche Gefühl, dass er zwischen Merripen und dessen völligem Untergang stand, und er ihn nur mit schlagenden Argumenten überzeugen konnte.
»Wenn du nicht so ein sturer Bock wärst«, sagte Leo, »würde mir das hier erspart bleiben.«
Keine Antwort von Merripen. Nicht einmal ein böser Blick.
Leo drehte sich zur Seite, rieb sich über den Nacken und massierte sich die verkrampften Muskeln. »Du weißt, ich rede nie von Laura Dillard. Vermutlich spreche ich jetzt das erste Mal seit ihrem Tod ihren vollständigen Namen aus. Aber ich werde dir etwas über sie erzählen, denn nicht nur ich bin dir zu großem Dank verpflichtet für all die Arbeit, die du ins Ramsay-Anwesen gesteckt hast, sondern …«
»Nicht, Leo.« Die Worte waren hart und kalt. »Du machst dich zum Narren.«
»Nun, zumindest darin verfüge ich über einen großen Erfahrungsschatz. Und du lässt mir keine andere Wahl. Verstehst du nicht, wo du bist, Merripen? In einem Gefängnis, das du dir selbst gebaut hast. Und selbst, wenn du aus dem hier wieder draußen bist, wirst du immer noch gefangen sein. Dein ganzes Leben wird einem einzigen Gefängnis gleichen.« Leo dachte an Laura, deren körperliche Einzelheiten schon lange verblasst waren. Doch sie lebte in ihm weiter, wie die Erinnerung an Sonnenlicht in
einer Welt, die seit ihrem Tod düster und bitterkalt war.
Die Hölle bestand nicht aus Feuer und Schwefel. Die Hölle war jeden Tag zu spüren, wenn er allein aufwachte, die Laken nass mit Tränen und seinem Samen und dem Wissen, dass die Frau, von der er geträumt hatte, nie mehr zu ihm zurückkäme.
»Seit ich Laura verloren habe«, sagte Leo, »ist alles, was ich tue, bedeutungsloser Zeitvertreib. Es ist schwer, zurück ins Leben zu finden. Aber zumindest weiß ich, dass ich um sie gekämpft habe. Zumindest habe ich jede verdammte Minute, die mir vergönnt war, mit ihr verbracht. Sie ist in dem Wissen gestorben, dass ich sie geliebt habe.« Er blieb stehen und starrte Merripen verächtlich an. »Du hingegen wirfst einfach alles weg – und brichst meiner Schwester das Herz – weil du ein verfluchter Feigling bist. Entweder das, oder der größte Narr auf Erden. Wie kannst du nur …« Er brach ab, als sich Merripen gegen die Gitterstäbe warf und wie ein Geisteskranker zitterte.
» Halt endlich den Mund! «
»Was werdet ihr beide haben, sobald Win mit Harrow abreist?«, beharrte Leo. »Du bleibst in deinem selbst gebauten Gefängnis, daran besteht kein Zweifel. Aber Win wird es schlechter ergehen. Sie wird allein sein. Weit weg von ihrer Familie. Verheiratet mit einem Mann, der in ihr nichts weiter sieht als ein dekoratives Schmuckstück. Und was geschieht, wenn ihre Schönheit schwindet und sie an Wert für ihn verliert? Wie wird er sie dann behandeln?«
Merripen erstarrte mit verzerrtem Gesichtsausdruck und Mordlust in den Augen.
»Sie ist ein starkes Mädchen«, sagte Leo. »Ich habe zwei Jahre mit Win verbracht und zugesehen, wie sie eine Herausforderung nach der anderen meisterte. Nach all den Kämpfen, die sie ausgetragen hat, steht es ihr verdammt nochmal zu, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn sie das Risiko eingehen will, ein Kind auszutragen – wenn sie sich stark genug fühlt -, dann ist das ihr Recht. Und wenn du der Mann bist, den sie will, dann sei kein Dummkopf und renn nicht einfach weg.« Erschöpft rieb sich Leo die Stirn. »Weder du noch ich sind auch nur einen Penny wert«, murmelte er. »Oh, du kannst mir zeigen, wie man ein Anwesen leitet und die Rechnungsbücher führt und die Pächter bei Laune hält und die verfluchten Vorratskammern füllt. Wahrscheinlich wird mir das alles sogar ganz gut gelingen. Aber wir zwei werden für immer wie trostlose Geister umherirren.«
Leo hielt inne, als er das einschnürende Gefühl um seinen Hals bemerkte, das sich anfühlte, als würde eine Schlinge zugezogen
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