Glutheißer Höllentrip
zerknirscht. „Darüber habe ich mir noch gar nicht den Kopf zerbrochen.“
„Aber ich. Seit der Entführung habe ich die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie wir am besten entkommen könnten. Wir mussten die Gelegenheit abpassen, dass keiner der Gangster auf uns achtet. Diese Chance haben wir genutzt. Und nun müssen wir das Beste daraus machen.“
„Du sagst immer ‚wir‘, Li“, stieß Kathy verzagt hervor. „Aber bin ich für dich nicht nur eine Belastung? Ich meine, du scheinst den totalen Durchblick zu haben. Und ich komme mir hier in der Wüste hilflos und verloren vor.“
Li wandte sich Kathy zu und packte sie mit beiden Händen an den Armen. „Gib doch nicht so einen Unsinn von dir, okay? Ich mag dich, hast du das noch nicht gemerkt? Glaubst du, ich würde allein fliehen und dich in den Händen dieser Dreckskerle zurücklassen? Hältst du mich wirklich für so egoistisch?“
„Nein, natürlich nicht. Sorry, es tut mir leid.“
„Schon gut, ist bereits vergessen. Komm, wir wollen unseren Vorsprung nicht aufs Spiel setzen. Wir müssen damit rechnen, dass die Verbrecher aufholen. Noch sind wir nicht in Sicherheit. Zum Glück habe ich das meiste von meinem Survival-Training bei der Armee noch nicht vergessen. Das hoffe ich jedenfalls.“
Die beiden jungen Frauen begannen wieder zu laufen, allerdings nicht mehr so schnell wie zuvor. Li verfiel in einen leichten Trab. Es war ein Tempo, bei dem Kathy gut mithalten konnte. Sie blieb an der Seite ihrer neuen Freundin. Kathy brauchte nicht mehr ihre ganze Kraft zum Rennen, ihr blieb sogar noch genug Puste für einen Wortwechsel mit Li.
„Woher weißt du überhaupt, in welche Richtung wir uns wenden müssen? Du hast doch keinen Kompass dabei, oder?“
„Nein, aber den brauche ich auch nicht. Zum Glück haben wir heute eine sternklare Nacht, und den Mond kann man auch gut erkennen. Siehst du den ganz hellen Stern dort, Kathy? Das ist der Polarstern. Er befindet sich über dem Sternbild Cassiopeia. Es sieht aus wie ein sehr breites W. Dort, wo der Polarstern steht, ist immer Norden. Wir müssen uns also nur von ihm wegbewegen, wenn wir Richtung Süden wollen. Wenn ich nicht schiefliege, dann sind wir nordwestlich von dem Diner und dem Highway. Also laufen wir nach Südosten, um unser Ziel zu erreichen.“
Und wenn Li sich nun irrte? Kaum war Kathy dieser Gedanke gekommen, als sie sich auch schon dafür schämte. Was war sie nur undankbar! Momentan hatte sie nicht das Gefühl, für die Chinesin irgendwie von Nutzen sein zu können. Und deswegen fühlte sie sich richtig mies.
Es war, als hätte Li ihre Gedanken gelesen. „Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, allein abzuhauen. Glaube bloß nicht, dass ich dich aus purer Freundschaft mitgenommen habe. Ich habe dabei auch an mich selbst gedacht.“
„Wie meinst du das?“, fragte Kathy und warf Li einen neugierigen Seitenblick zu.
„Ich kann nicht allein sein“, gestand Li. „Das bin ich einfach nicht gewohnt. Ich bin immer mit anderen Menschen zusammen gewesen, teilweise auf engstem Raum. Bei der Armee haben wir mit zwölf Frauen gemeinsam in einem Schlafsaal genächtigt. Da war oft genug Zickenalarm, das kannst du mir glauben. Aber irgendwie musste man sich dann doch wieder zusammenraufen. Und im Studentenwohnheim teile ich mir ein Zimmer mit drei anderen Kommilitoninnen.“
„Echt?“, fragte Kathy verwundert. „Bei uns ist es höchstens üblich, dass zwei Mädchen in einer Studentenbude zusammenwohnen.“
„Wahrscheinlich habt ihr in England einfach mehr Platz“, meinte Li kichernd. „Es gibt immerhin über eine Milliarde Chinesen, da muss man enger zusammenrücken.“
Kathy lachte nun ebenfalls. Gewiss, die gemeinsame Flucht mit Li war ein gefährliches Abenteuer. Aber es war bei Weitem nicht so riskant wie ein weiterer Aufenthalt in dem gekidnappten Bus, wo ihr Leben von den Launen des Psychopathen Pete abhängig war. Für Kathy stand fest, dass sie sofort die Cops alarmieren würden, sobald sie die Zivilisation erreicht hätten. Die verbleibenden Passagiere brauchten dringend Hilfe. Kathy hoffte nur, dass die Entführer nicht ihre Wut über die geglückte Flucht der beiden jungen Frauen an den übrigen Geiseln ausgelassen hatten.
Immerhin konnte sie jetzt endlich etwas tun, aktiv werden. Am schlimmsten war es gewesen, Petes Demütigungen völlig passiv über sich ergehen zu lassen. Diese Situation hatte sie allzu stark an das Zusammenleben mit ihrem Stiefvater erinnert.
Kathy
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