Glutopfer. Thriller
weil sie in einem ganz ähnlichen Ort nicht weit von hier aufgewachsen ist.
Alkohol und Drogen sind zum Kleinstadtersatz für Familie, Sinn und Ziele geworden. Spaß haben heißt für viele junge Leute wie Mandy volle Dröhnung am Wochenende. Man trifft sich am Fluss, bei jemand zu Hause oder auf irgendeinem Acker, trinkt Bier, Whisky oder Schwarzgebrannten, wirft aus dem Medizinschränkchen der Eltern geklaute Pillen ein und raucht Gras.
Und für die, denen das nicht reicht, gibt es auch noch Crack und Meth.
Und wo sind die Eltern dieser Kids? Die machen dasselbe, leben immer noch wie damals auf der Highschool, hangeln sich von Beziehung zu Beziehung, betäuben sich gegen Oberflächlichkeit und Leere und legen kaum mehr Verantwortungsgefühl an den Tag als ihre Teenager, oft weniger.
Wenn Sam zuvor nicht daran gedacht hat, fällt ihr spätestens jetzt ein, warum sie die Kleinstadt ihrer Jugend fluchtartig verlassen hat, ohne sich jemals umzudrehen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Sam.
»Ganz gut.«
Das sind die Schmerzmittel. Sie hat ein gebrochenes Bein, ein angebrochenes Handgelenk und mehrere Hautabschürfungen. Ein Auto hat sie angefahren, als sie um Hilfe schreiend aus dem Wald gerannt kam.
»Haben Sie Jess schon gefunden?«, fragt sie, und ihre Stimme ist dünn und brüchig wie die eines kleinen Mädchens.
Sam schüttelt den Kopf.
»Wo waren Sie und Jess, als Sie den Mann im Wald gesehen haben?«
»Ich weiß nicht. Wir sind einfach reingerannt, und dann immer weiter.«
»Wie lange sind Sie gerannt, bevor Sie ihn sahen?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Hören Sie, ich war so breit, ich hab keine Ahnung. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht mehr.«
»Und Sie sind die ganze Zeit richtig gerannt?«
»Ja, glaube schon«, sagt sie. »Ich weiß nicht genau. Einmal bin ich stehen geblieben und musste kotzen, aber ich glaube, das war, nachdem wir ihn gesehen hatten.«
»Sie haben Officer Stewart erzählt, dass etwas an dem Mann merkwürdig war.«
Mandy nickt.
»Er trug ein Gewand«, sagt sie.
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Ich hab das erst so richtig gesehen, als ich mich umgedreht hab, weil ich wissen wollte, was los ist. Jess lag auf dem Typen drauf, aber dann hat der Typ ihn einfach irgendwie runtergerollt und ist aufgestanden. Und da habe ich das Gewand gesehen.«
Sams Handy vibriert, sie nimmt es vom Gürtel, klappt es auf und meldet sich.
»Agent Michaels, hier ist Colin Dyson. Wir haben den Jungen gefunden.«
Die Reifen von Autos und Pick-ups haben hohes Gras, Bahiaschösslinge und Unkraut auf dem kleinen Feld niedergedrückt, der Boden ist mit Bierdosen, Whiskyflaschen, Chipstüten, Kondomverpackungen und Drogenutensilien übersät. Hier und da liegen noch die geschwärzten Scheite der Lagerfeuer in eigens dafür ausgehobenen Gruben.
Wo die Pick-ups und Autos der jungen Leute gestanden haben, parken nun Polizeiwagen, Rettungsfahrzeuge und der Kleinbus der FDLE -Spurensicherung. Vom Abend zuvor ist nur Mandys alter grauer Geländewagen geblieben.
Während Sam über das Feld geht, wird ihr ganz schlecht von der Verschwendung und Ziellosigkeit, für die es steht, und als sie schließlich den Wald dahinter betritt, bückt sie sich, um die Absperrbänder zu passieren, und achtet auf Wassermokassin- und Klapperschlangen.
Weil es keinen nennenswerten Pfad gibt, tritt sie auf feuchtes Sumpfland, tote Blätter und Kiefernnadeln und muss umgestürzte Zypressen und die dicken Füße von Schwarzeichen umgehen. Nach etwa fünfzehn Metern stoßen Colin Dyson und Adam Whitten zu ihr.
»Hat das Auswirkungen auf unsere Razzia bei der Jehovamiliz?«, fragt Whitten.
Sie schüttelt den Kopf.
»Sie können denen trotzdem die Tür zerlegen.«
Sie bezweifelt, dass er auch nur annähernd so eifrig wäre, wenn er nicht ein Dutzend FDLE -Agenten mit Spezialausbildung als Begleitung hätte.
»Was haben wir?«, fragt sie.
»Wir glauben, dass der Mörder erst den Jungen umgebracht hat, wie, wissen wir noch nicht, und dann dem Mädchen nachgerannt ist«, sagt Dyson. »Bevor er sie erwischt, stößt sie auf die Straße und wird angefahren, und als er wieder hier ist, sind die Deputys schon da und suchen den Wald nach Kids ab.«
»Klingt einleuchtend.«
Bei der Leiche angekommen, bleiben sie abrupt stehen, um die Techniker nicht zu stören. Michelle Barnes kommt zu Sam herüber.
Jess liegt mit dem Gesicht nach oben da, die Augen sind geschlossen, langes, zotteliges Barthaar hängt an seinem fahlen Kinn.
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