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Glutopfer. Thriller

Glutopfer. Thriller

Titel: Glutopfer. Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lister
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Sirenen.
    »Bitte nicht«, sagt Colin. »Bitte.«
    Die beißenden Benzindämpfe sind ein Angriff auf ihren Geruchssinn und hängen so schwer in der Luft, dass sie zu spüren meint, wie der ätherische Stoff in ihre Haut dringt, und ihn geradezu schmeckt.
    »Nicht näher kommen«, schreit River.
    Als Sam sich zur hinteren Ecke umdreht, aus der die Stimmen kommen, sieht sie, dass River und Colin in einer Pfütze aus Benzin stehen, während die ölige Substanz noch immer aus einem umgekippten Fass in der Nähe schwappt. Colins Kleider und Haut sind offenbar nass, er hat seine Waffe nicht mehr, aber Sam kann nicht sehen, wo sie geblieben ist.
    »Bitte«, sagt Colin. »Wir wollen Ihnen nichts tun. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
    River hält in der rechten Hand ein altmodisches, oben aufgeklapptes Feuerzeug, aus dem eine Flamme lodert und flackert, wenn er es bewegt.
    »Junge, hast du schon wieder mit deinem Pimmel gespielt?«, sagt River im nachgeahmten Ton eines älteren Mannes vom Land mit schwerem südlichem Akzent. »Ich brenn ihn dir ab.«
    »Bitte.«
    »River?«, ruft Sam.
    »Mama?«, fragt er und dreht sich um, als hätte er sie ganz vergessen. »Ich versuche, brav zu sein, Mama. Mit Blut erkauft. Von Geist erfüllt. Gebessert vom Feuer. Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit. Sieh, welch großen Wald eine kleine Flamme entzündet.«
    Sam lässt ihre Waffe sinken und schiebt sie in das Halfter.
    Ich muss ihn von Colin weglocken. Weg vom Benzin.
    »River, ich will, dass du zu mir kommst.«
    Sei seine Mama. Sprich sanfter. Mit mehr Akzent. Aber lock ihn von Colin weg. Lock ihn aus diesem Gebäude.
    »Was willst du mit mir machen, Mama?«
    »Nichts, Baby. Komm schon. Komm zu Mama.«
    Weil Rivers Aufmerksamkeit auf Sam gerichtet ist, rennt Colin los, rutscht aber auf dem glatten Boden aus und fällt hin.
    Steh auf. Steh auf. Schnell.
    Sirenen, direkt vor dem Durchgang.
    Türen schlagen.
    River wirft sich auf Colin und lässt dabei das Feuerzeug fallen.
    »Renn mir bloß nicht weg, Junge«, sagt er mit der fremden Stimme.
    Das Feuerzeug fällt zu Boden, prallt einmal ab und entzündet den Brennstoff, leuchtend blaue Flammen schießen in alle Richtungen und verschlingen die Männer.
    Colin schreit.
    Sam rennt auf die beiden zu, wird aber zurückgeschleudert, als das umgekippte Fass in Flammen aufgeht und explodiert.
    Draußen Rufe.
    »Feuer. Feuer. Ruft die Feuerwehr und einen Rettungswagen.«
    Drinnen schreit Colin weiter, und nun schreit River auch, Laute, die sie nie gehört hat.
    Arme umschlingen sie. Hände packen sie, große, starke Hände, und sie wird weggerissen von dem Gebäude, weg von den rasenden Flammen, weg von den grauenhaften Schreien, um draußen festzustellen, dass die Schreie nun in ihr sind – und vielleicht immer sein werden.
    »Sie geht immer noch nicht ran«, sagt Daniel.
    »Was ist denn?«
    »Das Nazisymbol«, sagt Daniel. »Das Brandopfer. Der Priester.«
    »Ja?«
    »Denk daran, was sein Opfer ablegen musste.«
    Ben nickt.
    »Schuhe und Schmuck und so?«
    »Warum?«
    »Weil sie das da, wo sie hinging, nicht brauchte?«, fragt Ben.
    »Ja«, sagt Daniel. »Sozusagen. Überleg mal. Eisenbahndepot. Gleise. Wertsachen zurücklassen.«
    Bens Augen weiten sich.
    »Er ahmt die grauenhaftesten Verbrennungen in der Geschichte der Menschheit nach. Den Holocaust.«

48
    »Es war eine Verleugnung Gottes. Es war eine Verleugnung des Menschen. Es war die Zerstörung der Welt in kleinerer Form.«
    Dieses Zitat des Auschwitzüberlebenden Hugo Gryn verfolgt Daniel, aber nicht so sehr wie die Bilder von Massengräbern, von aufgehäuften Leibern, die einmal lebendige menschliche Wesen mit Träumen waren. Bilder haben sich in sein Gehirn gebrannt – teils, weil es in einem seiner religionswissenschaftlichen Seminare um den Holocaust ging, teils, weil ihn der Holocaust immer beschäftigt hat und er immer noch nicht wirklich versteht, wie es dazu kommen konnte, und teils, weil er gerade in jüngster Zeit zu Bens Pessach-Projekt recherchiert hat – Bilder von nackten, wehrlosen Frauen, die öffentlich gedemütigt ihrem namenlosen Tod in einem Massengrab entgegengehen, während ein Nazisoldat sein Gewehr auf ihre Köpfe richtet.
    Wenn er die Augen schließt, sieht er rasierte Köpfe, ausgezehrte Körper, offene Wunden und die leblosen Augen von Lebenden, Augen, die mehr Grauen und Unmenschlichkeit gesehen haben, als ein Mensch verarbeiten kann. Er sieht Zigeunerjungen, deren Knochen

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