Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
auf Michaels Gesicht. Michael wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Gegen zehn Uhr abends sind Sie dennoch nach Hause gekommen. Mit dem Fahrrad. Ist das korrekt?«
Michael schaute aus dem Fenster, starrte an die Zimmerdecke. Offenbar wollte er Jones’ Blick meiden. Anfangs hatte er trotz seines imposanten Äußeren aufgeschlossen und interessiert gewirkt, aber hier, in diesem engen, von der Mutter eingerichteten Zimmer, schien Michael abzudriften, dichtzumachen.
»Haben Sie Ihre Mutter angetroffen?«
»Nein. Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe mich schlafen gelegt.«
»Warum sind Sie nach Hause gekommen?«
Nun starrte Michael Jones an. Andere Menschen hätten seinen Blick möglicherweise als bedrohlich empfunden, aber Jones sah die Leere dahinter. Michael blickte nach innen, nicht nach außen.
»Manchmal war es eben so«, erklärte er und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich wollte unbedingt in meinem eigenen Bett schlafen. Kennen Sie das nicht?«
»Natürlich.«
Jones wusste nicht, wovon Michael sprach. Als Junge hatte er so oft wie möglich woanders übernachtet. Er hatte jede Gelegenheit ergriffen, um vor seiner Mutter zu flüchten, vor ihrer Bedürftigkeit und ihrer Kritik, den ständigen Sorgen und dem Gejammer. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass Ricky jemals früher als verabredet nach Hause gekommen wäre oder weinend aus dem Sommerlager angerufen hätte wie so viele andere Kinder.
»Können Sie sich an jenen Abend erinnern?«, fragte er. »Gab es damals etwas, das Sie uns nicht verraten wollten?«
Michael nahm eine kleine Schneekugel mit der Skyline von Manhattan in die Hand. Nach einer Weile begriff Jones, dass er keine Antwort mehr bekommen würde. Er räusperte sich. Michael schaute erschreckt auf, so als habe er den Besucher vergessen.
»Mir ist aufgefallen, dass Ihre Bemühungen um eine neuerliche Untersuchung des Falles zeitlich mit dem Ableben Ihres Vaters zusammenfallen«, sagte Jones schließlich. »Das fand ich merkwürdig.«
Holt schwieg beharrlich und wendete die Schneekugel hin und her.
»Haben Sie im Haus etwas gefunden?«, fragte Jones.
Da schien Michael aufzuwachen.
»Ich habe damals Stimmen gehört. Ich glaube, sie haben sich gestritten.«
»Haben Sie Ihr Zimmer verlassen, um nachzusehen?«, fragte Jones.
»Nein. Nein, habe ich nicht. Die beiden waren nicht glücklich. Sie haben eine furchtbare Ehe geführt und ständig gestritten.«
»Worüber?«
Holt atmete lautstark aus.
»Keine Ahnung. Worüber streiten verheiratete Paare? Über Geld – angeblich gab sie zu viel aus, und er verdiente zu wenig. Er war ständig unterwegs und ließ sie mit uns Kindern allein. Wie ich schon sagte, sie waren nicht glücklich. Sie hat ihn nicht geliebt. Ich glaube, im Grunde ging es bei den ständigen Streitereien nur darum.«
Holt klopfte nervös mit dem rechten Fuß auf den Teppich. Jones schwieg.
»Als ich wieder herkam«, sagte Holt, »und das Haus sah, die Sachen meiner Mutter … da wollte ich auf einmal wissen, was ihr zugestoßen ist. Wir haben im Laufe der Jahre immer wieder Anstrengungen unternommen, es herauszufinden. Niemand hat sie je gefunden. Falls es eine Antwort gibt, muss ich hier danach suchen, in The Hollows.«
»Und aus diesem Grund haben Sie Ray Muldune und Eloise Montgomery beauftragt?«
Holt beugte sich in dem viel zu kleinen Sessel nach vorn. Sein Gesicht wirkte wieder offen und normal.
»Die Polizei hat mich auflaufen lassen. Eloise kannte meine Mutter, sie hat damals auf mich und meine Schwester aufgepasst. Angeblich verfügt sie über diese spezielle Gabe.« Er zog die Schultern hoch, schaute abermals aus dem Fenster. »Sie wollte es mir ausreden. Hat sie es Ihnen erzählt? Sie hat gesagt, manchmal wäre es besser, die Wahrheit nicht zu wissen. Sie hat gesagt, ich solle meine Mutter gehen lassen. Aber ich bin hartnäckig geblieben, und am Ende haben sie den Fall übernommen. Zumindest Muldune. Aber soviel ich weiß, kommen sie nicht weiter.«
»Haben Sie deswegen das Loch im Wald gegraben?«
Michael Holt richtete seine schwarzen Augen auf Jones. Jones konnte den Blick nicht einschätzen, doch er gefiel ihm nicht.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, fragte Michael mit tonloser Stimme.
»In The Hollows bleibt so gut wie nichts geheim«, sagte Jones. Er drückte sich gewollt vage aus, weil er dem Mädchen keine Schwierigkeiten machen wollte. »Außerdem handelt es sich um ein Privatgrundstück.«
»Es gehört zu meinem Beruf, die
Weitere Kostenlose Bücher