Gnade
schmeckte.
Seit Theo seine Zimmertür hinter sich zugemacht hatte, hatte er keinen Mucks von sich gegeben. Er schlief wahrscheinlich tief und fest. Dieser Blödmann!
Michelle schlich die Treppe hinauf, um ihn nicht zu stören, putzte sich noch einmal die Zähne und öffnete ein Fenster, damit sie die Laute des nahenden Gewitters besser hören konnte. Sie zog ein rosafarbenes Seidennachthemd an – das grüne aus Baumwolle kratzte so sehr an den Schultern – und schlüpfte zwischen die Laken. Sie schwor sich, nicht noch einmal aufzustehen. Ihr Nachthemd war bis zu den Hüften hochgerutscht. Sie zog es hinunter und richtete die Spaghettiträger, sodass sie ihr nicht mehr über die Schultern gleiten konnten. Jetzt war alles perfekt für ihre Nachtruhe. Sie faltete die Hände über dem Bauch, schloss die Augen und atmete so tief durch, bis ihr schließlich schwindlig wurde. Unter ihrem Fuß spürte sie eine Falte im Laken. Denk nicht dran, befahl sie sich. Es ist höchste Zeit zum Schlafen. Entspann dich endlich!
Fünfzehn Minuten vergingen, und Michelle war noch immer hellwach. Ihre Haut war heiß, und die Laken fühlten sich klamm an von der hohen Luftfeuchtigkeit. Michelle war inzwischen so genervt, dass sie hätte heulen können. In ihrer Verzweiflung zählte sie Schäfchen, beendete das Spiel aber rasch wieder, weil sie sich ohnehin nur beeilte, um die Sache hinter sich zu bringen. Schafe zählen war wie Kaugummi kauen. Sie hasste Kaugummi! Sie dachte darüber nach, dass sie besser die Psychiatrie als Fachgebiet gewählt hätte, dann könnte sie jetzt vielleicht ergründen, warum sie langsam, aber sicher durchdrehte.
Fernsehen! Das war’s. Sie würde ein wenig fernsehen. Mitten in der Nacht wurde natürlich nie etwas Gutes gesendet, aber bestimmt lief auf einem der Kanäle eine Verkaufssendung. Das war jetzt genau das Richtige und mit Sicherheit besser als eine Schlaftablette. Michelle schleuderte die Decke beiseite, griff nach dem Morgenmantel am Fußende des Bettes und zog ihn auf dem Boden hinter sich her. Als sie die Tür aufmachte, gab die ein durchdringendes Quietschen von sich. Warum war ihr das Geräusch bisher nicht aufgefallen? Sie warf den Morgenmantel auf den Sessel neben der Tür, trat auf den Flur und kniete sich hin. Dann zog sie die Tür langsam zu. Sie glaubte, dass die untere Angel diesen wimmernden Ton verursachte, und während sie die Tür auf- und zumachte, beugte sie sich tiefer, um zu lauschen.
Ja, es war die untere Angel. Sie beschloss, auch die obere zu kontrollieren. Sie stand auf, umfasste erneut den Türknauf und bewegte die Tür hin und her. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und horchte. Auch jene Angel quietschte leise. Wo hatte sie bloß das Ölkännchen deponiert? Sie konnte das Problem sofort beseitigen – wenn sie sich nur daran erinnerte, wo sie das Kännchen hingestellt hatte. Sie entsann sich dunkel, es zuletzt in dem Regal in der Garage gesehen zu haben.
»Kannst du nicht schlafen?«
Michelle wäre vor Schreck beinahe umgefallen. Sie fuhr zusammen und machte eine unkontrollierte Bewegung mit der Hand, die noch immer den Türknauf umschloss. Die Tür schlug gegen ihren Kopf. »Aua!«, platzte sie heraus und ließ den Knauf los. Vorsichtig tastete sie ihren Kopf ab, um festzustellen, ob sie blutete.
Dann drehte sie sich um. Sie brachte kein Wort heraus. Theo lehnte mit über der nackten Brust verschränkten Armen lässig im Türrahmen seines Schlafzimmers und hatte einen bloßen Fuß über den anderen gekreuzt. Seine Haare standen wirr in alle Richtungen, und er hätte gut eine Rasur gebrauchen können. Er sah aus, als wäre er gerade aus dem Tiefschlaf erwacht. Er hatte sich zwar eine Jeans übergezogen, sich aber nicht die Mühe gemacht, den Reißverschluss zuzuziehen.
Er war einfach unwiderstehlich!
Michelle starrte auf die schmale Öffnung des Reißverschlusses, dann ertappte sie sich dabei und zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie richtete ihn auf seine Brust, aber auch das war ein Fehler, deshalb betrachtete sie schließlich eingehend seine Füße. Er hatte wunderschöne Füße!
Sie brauchte wahrlich dringend professionelle Hilfe. Jetzt machten sie sogar schon seine Füße an.
Aber er war nicht irgendein Mann. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass er ihr gefährlich werden konnte. Und die Sache mit dem verdammten Zaun hatte ihr den Rest gegeben. Wenn er nicht den Zaun für den kleinen John Patrick gekauft hätte, wäre sie vielleicht im Stande
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