Gnade
Neidgefühlen schier überwältigt. Er wusste, dass John dieses Ding nur trug, um die kahle Stelle an seinem Hinterkopf zu verbergen. Wenn er fünfzig war, würde er eine Vollglatze haben wie sämtliche Männer in seiner Familie, gleichgültig, welche Mittel er ausprobierte. Aber was spielte das für eine Rolle? Die Frauen würden ihn trotzdem umwerfend finden. Frauen nahmen alles in Kauf, wenn Geld im Spiel war.
Cameron schüttelte heftig den Kopf, als könne er sich so von seinem Selbstmitleid befreien. Sich selbst zu bedauern half schließlich kein bisschen weiter. Außerdem musste er nur noch ein paar Jahre durchhalten. Konzentriere dich auf die Zukunft!, ermahnte er sich. Dann würde er sich als Multimillionär zur Ruhe setzen und nach Südfrankreich übersiedeln, und seine Ex konnte nicht das Geringste dagegen tun.
John ließ sich gerade auf den weichen Ledersitz gleiten. Dann lockerte er seine Krawatte, richtete den Rückspiegel und fuhr los.
Sollte er ihm folgen? Cameron fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. Es war vielleicht wirklich voreilig, sofort Verrat zu wittern. Die Sache war womöglich vollkommen harmlos. John hatte seine Frau geliebt, und wenn es eine wirksame Therapie gegeben hätte, dann wäre sein Freund bereit gewesen, den letzten Dollar zu opfern, um Catherine zu retten!
Cameron hielt sich dies immer wieder vor Augen, doch ein Zweifel blieb, und deshalb fuhr er schließlich doch hinter seinem Freund her. Er glaubte fest daran, dass sich dieses Missverständnis aufklären würde, wenn er sich mit John zusammensetzte und mit ihm darüber sprach. John würde ihm erläutern, dass sein Verdacht lediglich eine Folge des schlechten Gewissens war, das sie alle nach dem Gnadenakt plagte.
Während der Fahrt überlegte Cameron erneut, ob er seinen Wagen wenden und nach Hause fahren sollte, aber er tat es nicht. Er musste einfach Klarheit haben. Er nahm eine Abkürzung durch den Garden District und kam vor John bei dessen Haus an. Das schöne viktorianische Gebäude stand an einer Straßenecke. Zwei riesige alte Eichen und eine Magnolie überschatteten den Vorgarten. Cameron blieb in der Seitenstraße stehen, die an die mit einem elektrischen Tor verschlossene Auffahrt grenzte.
Er schaltete erst die Scheinwerfer und dann den Motor aus und blieb hinter dem Lenkrad sitzen, gut verborgen unter einem dicht belaubten Ast, der das Licht der Straßenlaterne abschirmte. Im Haus war alles dunkel. Als John ankam, fasste Cameron unwillkürlich nach dem Türgriff und erstarrte.
»Scheiße!«, entfuhr es ihm.
Sie war bereits da und wartete auf John. Das schmiedeeiserne Tor schwang auf, und Cameron entdeckte sie auf dem Weg neben dem Haus. Das Garagentor hob sich – der rote Honda stand bereits drin.
Sobald John seinen Wagen neben dem Honda abgestellt hatte und die Garage verließ, lief sie auf ihn zu. Ihre großen runden Brüste wippten wie Silikonbälle unter dem engen Kleid. Der trauernde Witwer konnte nicht einmal warten, bis sie im Haus verschwunden waren. Die beiden fielen übereinander her wie die Straßenköter. Ihr Kleid hing ihr um die Taille, und während die beiden gemeinsam durch die Tür stolperten, umfasste Johns Hand eine Brust und knetete sie.
»Dieser Hurensohn!«, brummte Cameron. »Dieser verdammte Hurensohn!«
Er hatte genug gesehen. Er fuhr nach Hause in sein armseliges Zwei-Zimmer-Apartment, das er in einem scheußlichen Industrieviertel gemietet hatte, und ging dann stundenlang in seinem Wohnzimmer auf und ab. Er schäumte vor Wut, und eine Flasche Scotch gab seinem Zorn noch mehr Nahrung.
Etwa um zwei Uhr morgens gerieten zwei Betrunkene vor seinem Fenster aneinander und prügelten sich. Cameron beobachtete, wie einer von ihnen ein Messer zückte, und hoffte, er würde den anderen erstechen, damit endlich wieder Ruhe einkehrte. Doch irgendjemand musste die Polizei gerufen haben, denn nach wenigen Minuten raste ein Streifenwagen mit heulenden Sirenen herbei.
Zwei Polizisten stiegen aus und entwaffneten den Betrunkenen mit dem Messer. Sie stießen beide Männer heftig gegen die Steinmauer, und einer der Betrunkenen sank bewusstlos auf den Asphalt. Aus einer Wunde an seinem Kopf strömte Blut, das im grellen Licht der Straßenlaterne dunkel schimmerte. Der Polizist, der den Mann verletzt hatte, stieß rüde Beschimpfungen aus. Dann rollte er den bewusstlosen Mann auf den Bauch, kniete sich auf seinen Rücken und legte ihm Handschellen an. Danach schleppte er ihn zum Wagen.
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