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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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braucht sie wirklich keinen Oberboss mehr, der den Rahm von ihren Einkünften abschöpft.« Petro lehnte sich zurück und fuhr in seiner üblichen Bescheidenheit fort: »Ach, ich hatte einfach Glück und hab den richtigen Zeitpunkt erwischt. Balbinus hielt sich für unangreifbar, aber die Stimmung in der Unterwelt hat sich geändert. Die Leute waren bereit für eine Veränderung. Mir ist das früher aufgefallen als ihm, das war alles.«
    Wichtig war: Petronius Longus hatte es bemerkt. Mancher Ermittlungskommissar hätte die Nase so dicht am Boden gehabt, daß ihm die Fliegen auf dem Balkon entgangen wären.
    »Sei gefälligst stolz, daß du’s mitbekommen und gehandelt hast«, befahl ich.
    Er lächelte still.
     
    »Die Geschworenen haben ihn also für schuldig befunden, und Marponius hat was für seine Karriere getan und die Todesstrafe verhängt – ich nehme an, der Senat hat das Urteil bestätigt. Hat Balbinus Widerspruch eingelegt?«
    »Bei Vespasian, postwendend – und er wurde sofort abgelehnt.«
    »Nicht schlecht«, meinte ich. Wir waren beide Zyniker, was das Establishment anging. »Wer hat unterschrieben?«
    »Titus.«
    »Vespasian muß einverstanden gewesen sein.«
    »Oh, ja.« Nur der Kaiser hat die Macht, einem römischen Bürger das Leben zu nehmen, selbst wenn dieses Leben stinkt wie ein Haufen Katzenscheiße. »Ich war ziemlich beeindruckt von der schnellen Reaktion«, gab Petro zu. »Keine Ahnung, ob Balbinus versucht hat, Beamte zu bestechen, aber wenn ja, war es reine Zeitverschwendung. Heutzutage scheint es im Palast nur noch nach Veilchen aus Paestum zu riechen.« Das war den neuen flavischen Cäsaren zu verdanken. Bestechungsgelder waren offenbar zusammen mit Nero vom Balkon gestürzt. Zumindest schien Petro das zu glauben. »Es war genau das Resultat, das ich wollte, also was soll’s.«
    »Und jetzt sitzen wir hier!« gratulierte ich ihm. »In Ostia bei Morgengrauen.«
    »Ostia«, nickte er, vielleicht etwas verhalten. »Marponius bekommt ein unentgeltliches Mahl im Palast; ich bekomme ein freundliches Schreiben von Titus Cäsar, die Unterwelt bekommt einen Schuß vor den Bug …«
    »Und Balbinus?«
    »Balbinus«, grummelte Petronius Longus bitter, »der bekommt eine Gnadenfrist.«

IV
    Zu wissen, daß wir – die wir das Privileg besitzen, Bürger des römischen Imperiums zu sein – außer in Zeiten des extremen politischen Chaos, wenn jegliche Zivilisiertheit außer Kraft gesetzt ist, tun und lassen können, was wir wollen, und trotzdem unangreifbar sind, ist für uns alle sicher ein Trost.
    Natürlich ist es ein Verbrechen, wenn wir uns im auswärtigen Dienst bereichern; Vater oder Mutter ermorden; eine Vestalin vergewaltigen; einen Anschlag auf den Kaiser planen; den Sklaven eines anderen Mannes vögeln oder eine Amphore vom Balkon fallen lassen, um den Schädel eines Mitbürgers einzudellen. Für solch üble Taten können wir von jedem Freigeborenen angezeigt werden, der bereit ist, einen Anwalt zu bezahlen. Wir können zu einem peinlichen Gespräch vor einen Prätor zitiert werden. Wenn der Prätor uns nicht leiden kann oder auch nur unsere Geschichte nicht glaubt, kann er uns vor Gericht bringen, und wenn die Geschworenen uns ebenfalls nicht leiden können, werden sie uns für schuldig befinden. Für die schlimmsten Verbrechen können wir zu einem kurzen Treffen mit dem öffentlich bestallten Henker verurteilt werden. Aber da die Freiheit ein unveräußerliches und immerwährendes Gut ist, kann man uns nicht zwingen, eine Gefängnisstrafe zu erdulden. Während der Henker also in seinem Kalender nach einem freien Termin sucht, können wir ihm zum Abschied fröhlich zuwinken und unserer Wege gehen.
    Zu Sullas Zeit entzogen sich auf diese Art viele Verbrecher der Bestrafung, und dieses Vorgehen erwies sich offenbar als so preiswert, daß es schließlich zum Gesetz erklärt wurde: Kein römischer Bürger, der zum Tode verurteilt war, durfte verhaftet werden, selbst nach dem Urteilsspruch nicht, ohne daß ihm vorher eine Gnadenfrist eingeräumt wurde. Es war mein Recht, es war Petros Recht, und es war das Recht des mörderischen Balbinus Pius, ein paar Taschen zu packen, ein selbstgefälliges Grinsen aufzusetzen und zu verschwinden.
    Dahinter steckt die Annahme, das Leben außerhalb des Imperiums sei für einen römischen Bürger eine ebenso grausame Strafe wie der Tod. Balbinus lachte sich wahrscheinlich kaputt. Wer sich das ausgedacht hatte, konnte kein vielgereister Mensch sein. Ich

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