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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
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seinen Bemühungen offensichtlich nicht zufrieden. Er erwiderte ihren Blick mit einem hilflosen Schulterzucken. Wie bei unserem ersten Zusammentreffen lief ihm der Schweiß in die Augen. Er versuchte noch nicht einmal, seine Hilflosigkeit zu verbergen. Vielleicht erwartete er Mitleid oder Gnade von meiner Mutter. Doch sie war unerbittlich. Sie zeigte heute eine ungewohnte Härte, wollte sich noch nicht zufriedengeben.

    „Herr Pfarrer, vielleicht erzählen Sie Robert ja von dem jungen Herrn Michael? Er wollte zuerst doch auch keine Hilfe annehmen?“

    „Ja, das stimmt“, pflichtete der Pfarrer ihr schnell bei, froh, einen Anstoß erhalten zu haben.
    „Dieser Michael ist vor etwa zwei Jahren mit seinem Motorrad gestürzt und unter einen Reisebus geraten. Er lag über drei Wochen im Koma, die Ärzte hatten ihn schon beinahe aufgeben wollen. Seine Mutter betete jeden Tag in meiner Kirche für ihn. Als er dann endlich aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. An
gar nichts
! Wie ein kleiner Säugling musste er die alltäglichsten Dinge neu erlernen. Selbst so lebenswichtige Vorgänge wie das Schlucken mussten ihm wieder beigebracht werden. Das Krankenhauspersonal war nicht in der Lage, die nötige Zeit aufzubringen, um sich intensiv um ihn zu kümmern. Damals bat mich seine Mutter um Hilfe, die ich ihr sehr gerne vermittelte. Zwei Damen aus meiner Gemeinde erklärten sich bereit, ihn rund um die Uhr zu betreuen. Nach zehn Wochen konnte er wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er hatte wieder gelernt, sich alleine zu waschen, brauchte nicht mehr gefüttert zu werden. Dies liegt nun etwa acht Monate zurück. Heute lebt er wieder alleine in seinem Apartment in der Stadtmitte. Jeden Tag kämpft er um ein neues Stück Selbstständigkeit. Und Gott gibt ihm die Kraft, diese Kämpfe durchzustehen und zu gewinnen. Anfangs lehnte er
jegliche
Hilfe ab, wirklich
jede
! Er war, genau wie Sie, jung und stolz. Einmal hat er einer Krankenschwester das Tablett mit dem Mittagessen aus der Hand geschlagen, nur weil sie ihn füttern wollte. Doch mit der Zeit hat er gelernt, sich helfen zu lassen. Er hat inzwischen verstanden, dass er ohne fremde Hilfe nicht zurechtkommen kann. Aber er weiß auch, dass er vieles alleine bewältigen kann, und das macht ihn stark und selbstbewusst. Vor drei Wochen hat er sein Studium wieder aufgenommen, und ich bin mir sicher, er wird es erfolgreich abschließen. Denn er ist durch den Unfall gestärkt worden, er hat es begriffen. Wie ich es ihnen bereits bei unserem ersten Gespräch sagte: Gott legt uns Prüfungen auf, nichts geschieht ohne seinen Willen.“
    Beifall heischend blickte er zu meiner Mutter, die ihm mit einem kurzen Nicken ihr Wohlwollen signalisierte.

    „Das ist ja wirklich eine rührende Geschichte. Besitzen Sie die Filmrechte dazu? Der Stoff reicht doch bestimmt für einen Drehbuchoscar, stimmts?“

    Ich musste zugeben, der Pfarrer hatte mich ganz schön in die Ecke getrieben. Die Geschichte war
wirklich
gut! Ich wusste im Moment überhaupt nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
    Doch der Pfarrer war noch nicht fertig mit mir.

    „Sie sehen, dieser Michael hat es geschafft. Er hat seine Krise überwunden, und lebt nun sein Leben. Es gelingt ihm, die täglichen Hürden zu meistern, weil er weiß, dass sie ihn nicht wirklich aufhalten können. Er weiß genau, es gibt immer einen Weg, immer eine Lösung. Warum haben Sie eigentlich nie ihr Studium aufgenommen, Herr Braun? Ihre Mutter hat mir verraten, dass Sie vor ihrem Unfall planten, Sport und Psychologie zu studieren. Sie wollten sich bei der Bundeswehr verpflichten, und dort an ihrer sportlichen und akademischen Karriere arbeiten. Nicht wahr? Was hindert Sie daran? Ich meine natürlich nicht die Soldatenlaufbahn, aber warum studieren Sie denn nicht? So wie es aussieht, verplempern Sie ihre Tage mit nutzlosen Dingen. Sie verschwenden ihr Leben, verschenken wertvolle Zeit. Lassen Sie ihr Mitmenschen teilhaben an ihrem Leben!“

    Ich musst mir erst einmal etwas Luft verschaffen, Zeit gewinnen.
    „Was wissen Sie denn schon über mein Leben? Was wissen Sie denn darüber, wie ich meine Tage verbringe? Ob ich sie sinnvoll gestalte, oder sie wirklich nur verplempere? Soll ich etwa den ganzen Tag beten? Glauben Sie wirklich,
das
hätte einen Sinn
? Glauben Sie das wirklich?
Klar glauben Sie das! Und wissen Sie, warum Sie diesen Glauben haben? Weil er ihnen dabei hilft, ihre Augen zu verschließen. Sie sind blind, wenn es um

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