Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Dabei sah sie kein bisschen erschöpft aus, im Gegenteil. Ihr Gesicht leuchtete geradezu vor Vitalität.
„Keine Bange, Frau Braun. Ich bin auch erst vor kurzer Zeit eingetroffen. Ich hatte gerade erst abgelegt, da betraten Sie auch schon das Lokal.“
Warum log der Kerl? Oder hatte er sich seinen Wein etwa von zu Hause mitgebracht, der in einem fast leeren Glas vor ihm stand? War lügen nicht eine Sünde? Wenn das dein Chef da oben mitgehört hat, dann wird dich bald SEIN Zorn treffen! Der Mann schien richtig Schiss zu haben vor meiner Mutter, und ich hätte nur zu gerne gewusst, warum!
[Hat sie das Glas bemerkt? Zu dumm, dass ich daran nicht gedacht habe! Warum bin ich denn auch nur so nervös? Habe ich denn wirklich etwas zu befürchten? Sie würde ihre Drohung doch nie wahr machen, oder?]
Der Mann verhielt sich wie ein gesuchter Verbrecher, der von einem Polizisten entdeckt worden war. Ständig spielte er mit seinem Weinglas, er konnte seine dicken Wurstfinger kaum ruhighalten. Meine Mutter hingegen war die Ruhe selbst. Ja, sie strahlte eine absolute Selbstsicherheit aus. So kannte ich sie überhaupt nicht! Sie war sonst immer so unsicher und scheu, doch hier trat sie auf, wie eine Monarchin, die ihr Gefolge zum Rapport bestellt hatte.
Nach den Höflichkeitsfloskeln kam sie schnell zur Sache.
„Da Sie sicherlich viele Termine haben, möchte ich ohne Umschweife zum Thema kommen. Sie haben sich bereiterklärt, nochmals mit meinem Sohn zu sprechen. Das rechne ich ihnen wirklich sehr hoch an, haben Sie doch bei dem ersten Zusammentreffen schlechte Erfahrungen mit seinen fehlenden Manieren machen müssen. Ich finde das sehr großmütig von ihnen!“
[Außerdem hattest du gar keine andere Wahl, du Betrüger!]
Aha! Sie schien tatsächlich etwas über den Pfarrer zu wissen, was er lieber nicht mit jemand teilen wollte. Das musste ich mir gut merken! Es war ein sehr guter Ansatz für ein fruchtbares Gespräch.
Pfarrer Hofgang wollte gerade zu einer Predigt ansetzen, als wir von einer Kellnerin unterbrochen wurden. Dabei war es sehr interessant für mich zu beobachten, dass sie lediglich meine Mutter und den Pfarrer ansah. Mich wollte sie offensichtlich überhaupt nicht wahrnehmen. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Menschen, die dachten, dass ein Mensch im Rollstuhl nicht in der Lage sei, sich sein Mittagessen selber zu bestellen.
„Haben die Herrschaften bereits gewählt?“
„Ja, mein Sohn und ich möchten gerne das Menü 2, allerdings ohne den Salat. Bringen Sie uns stattdessen etwas Obst.“
Langsam wurde es mir aber zu bunt! Ich musste aufpassen, dass mir das Treffen nicht außer Kontrolle geriet, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.
„Mama, ich möchte weder das Menü 2 haben, noch auf den Salat verzichten. Wenn du mich bitte selber wählen lassen würdest?!“
Ich schaute zur Bedienung, die versuchte, mich anzusehen, ohne meinen Augen zu begegnen.
„Bringen Sie mir ein Steak! Ein Steak, schön blutig! Und dazu gebackene Kartoffeln. Und
natürlich
einen Salat!“
„Ja, gerne“, bekam ich als Antwort.
„Und was kann ich für Sie tun?“
Sie sah zu dem Kirchenmann, der inzwischen wie ein Todeskandidat wirkte, den man gerade nach seinen Wünschen für die Henkersmahlzeit befragt hatte.
„Äähm, ich hätte gerne das Menü 2. Und bitte ebenfalls ohne den Salat, wenn dies möglich ist. Etwas Obst wäre in der Tat sehr gut. Und bitte bringen Sie mir noch ein Glas Wein.“
„Sehr wohl. Und für welches Getränk haben Sie sich entschieden?“
Wiederum sah sie nur meine Mutter an.
„Bitte geben Sie mir ein Glas Mineralwasser, aber ohne Kohlensäure. Was trinkst du?“
Na bitte, geht doch!
„Zu einem Steak schmeckt mir natürlich ein Bier am besten. Ich bekomme ein Pils.“
Mit einem kurzen „Danke“ verabschiedete sich die Kellnerin fürs erste.
„Wo war ich stehen geblieben, bevor wir gestört wurden?“, nahm der Pfarrer wieder das Gespräch auf.
Scheinbar hatte er die kurze Unterbrechung genutzt, um seine Strategie zu ändern. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Sie hatten doch noch gar nicht begonnen“, antwortete ich schnell, um meiner Mutter zuvorzukommen.
Ich musste darauf achten, dass ich nicht die Führung des Gespräches verlor. Schließlich hatte ich mir einiges vorgenommen, und ohne die Initiative zu besitzen, würde ich keine Chance bekommen.
[Hoffentlich wird er nicht wieder so ausfallend! Noch einmal könnte ich das
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