Gnadenlose Gedanken (German Edition)
sehen konnte.
„Mama, du musst der jungen Dame unbedingt ein großzügiges Trinkgeld zukommen lassen. Sie hat es sich wirklich verdient! Findest du nicht?“
„Wie? Ja, ja. Ohne Zweifel. Vielen Dank, Fräulein! Wenn Sie nun so nett sein würden, das Geschirr abzutragen? Das Essen war wirklich vorzüglich.“
Meine Mutter war überhaupt nicht bei der Sache, doch ihre gute Erziehung ließ sie diese Worte ganz automatisch sagen. Wie ein Hund seinen Schwanz nicht ruhighalten konnte, wenn er seinem Herrchen ein Stöckchen apportierte. Dass sie ihren Teller überhaupt nicht angerührt hatte, schien sie weder bemerkt zu haben, noch schien es sie zu stören.
Die Kleine hatte genug Anstand, meine Mutter nicht auf den Widerspruch aufmerksam zu machen. Oder sie wollte sich nicht ein gutes Trinkgeld durch die Lappen gehen lassen.
„Wie soll es denn jetzt mit dir nur weitergehen?“, fragte meine Mutter mit einem resignierten Blick.
Scheinbar hatte sie bereits jede Hoffnung aufgegeben, dass aus mir noch ein braver Junge werden könnte. Ich wusste genau, was sie sich von diesem Gespräch erhofft hatte, aber sicher nicht, dass ich sie, oder den Pfarrer beleidigen würde. Eigentlich hatte ich das auch gar nicht gewollt, irgendwie hatte sich das Gespräch in diese Richtung entwickelt, und jetzt war es zu spät, um es wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. Zu viel hatte sich in den letzten Monaten in mir aufgestaut, zu viel hatte ich schlucken müssen.
Plötzlich hatte ich doch das Bedürfnis, wenigstens einen Gang zurückzuschalten.
„Vielleicht habt ihr ja doch Recht? Vielleicht lasse ich mich wirklich zu sehr hängen. Mir ist da gerade eine Idee gekommen. Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich in der zehnten Klasse eine Fahrt nach Dublin gemacht habe? Diese Woche in Irland hat mir echt gut gefallen. Ich glaube, ich plündere mein Sparbuch, und mache ein paar Wochen Urlaub. Möglicherweise wird mir das helfen, mir über meine Zukunft klar zu werden. Dort würde ich die nötige Ruhe finden können, um einmal über alles nachzudenken.“
Ein leichtes Lächeln flog über ihre Lippen. Damit hatte sie scheinbar nicht mehr gerechnet. Vielleicht war ihr missratener Sohn doch noch nicht
ganz
verloren? Sie schenkte dem Pfarrer einen dankbaren Blick, scheinbar glaubte sie, dass er mich
doch
bekehrt hätte. Ich ließ sie in ihrem frommen Glauben, und das zahlte sich für mich aus. Denn sie überreichte mir noch im Restaurant einen saftigen Scheck, um mir meine Reisekasse aufzufüllen.
7
Manfred war zuerst überhaupt nicht begeistert, als ich ihm von meinen Plänen berichtete. Es traf ihn einfach zu plötzlich, zu unvorbereitet. Ich konnte nicht gerade behaupten, dass Manfred ein spontaner Mensch war. Ihm war es lieber, wenn das Leben in geordneten Bahnen verlief. Deshalb machte er jeden Sonntag einen Speiseplan für die gesamte kommende Woche, von dem er dann nie abweichen würde.
Als ich ihn dann auch noch darum bat, seinen Kumpel aus der Wohngemeinschaft um dessen VW-Bulli zu bitten, sah er Schwierigkeiten auf sich zukommen. Für ihn klang es keineswegs nach Erholung, womit er möglicherweise auch Recht hatte. Aber schließlich konnte ich ihn doch überzeugen und ihm seine Zweifel nehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil er dachte, die Reise könnte mir mein Selbstbewusstsein stärken. Er glaubte immer noch, dass ich mir nichts zutraute, und irgendwie stimmte das ja auch. Ich besaß zwar die wunderbare Gabe, fremde Gedanken lesen zu können, aber das ließ mich auch nicht auf meinen Beinen stehen. Mit einem Rollstuhl nach Irland zu reisen, das war schon ein kleines Abenteuer. Und wer weiß, was es mir bringen würde? Wenn man bedachte, dass ich mich vor ein paar Wochen noch davor gefürchtet hatte, einige Tage nach Holland zu fahren, hatte ich mich schon ein wenig verändert. Irgendwie brauchte ich diese Herausforderung. Natürlich wollte Manfred wissen, wie ich so plötzlich auf die Idee gekommen war, nach Irland zu reisen. Schließlich konnte er sich auch noch an den Robert erinnern, der ich vor einem Monat noch gewesen war. Er hatte ja auch lange genug unter meinen Ängsten und Zweifeln leiden müssen. Doch eine richtige Antwort konnte ich ihm auch nicht geben. Ich wusste selber nicht, wie ich darauf gekommen war. Als ich mit dem Pfarrer und meiner Mutter in diesem Restaurant gesessen hatte, war mir dieser Gedanken urplötzlich durch das Gehirn geschossen. Nachdem sie mich für einen Moment in die Ecke getrieben
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