Gnadenlose Gedanken (German Edition)
hatten, war ich froh gewesen, sie mit meinen Reiseplänen ablenken zu können. Und ich hatte auch wirkliches Fernweh bekommen.
Damals, diese Klassenfahrt, war auch wirklich sehr schön gewesen. Ich hatte zwar in dieser einen Woche Dublin fast nur Pubs und Regen gesehen, aber dennoch hatten das Land, und vor allen seine Bewohner, einen tiefen Eindruck auf mich hinterlassen.
Da Manfred noch viele Vorkehrungen treffen musste, hatte ich an diesen Tagen viel Zeit, um an „meinen“ Platz zu fahren, und mir dort die Zeit mit Gedankenlesen zu vertreiben. An diesen Tagen war es wirklich nicht mehr als ein Hobby für mich. Ein Hobby, was mich von meinem Leben ablenken konnte. Genau das brauchte ich im Moment. Das große Grübeln sollte erst am Atlantik folgen.
Sehr zu meinem Bedauern gelang es mir immer noch nicht, meine besondere Begabung steuern zu können. Fremde Gedanken schossen in mein Hirn, ohne dass ich es vermeiden konnte. Jäh verspürte ich diesen Stich hinter meinem rechten Ohr, da wurde ich auch schon bombardiert. Und kaum hatte ich mich auf die Denkweise eines anderen Menschen eingestellt, da verschwanden sie auch schon wieder. Sehr oft sah ich einen Menschen, von dem ich so gerne etwas mehr gewusst hätte. Doch nie gelang es mir, in sie vorzudringen. Andererseits geschah es sehr häufig, dass ich mit Menschen in Kontakt trat, deren Gedanken absolut langweilig und uninteressant für mich waren. Die musste ich dann über mich ergehen lassen, und einfach geduldig abwarten, bis sie wieder verebbten.
Doch es waren auch sehr schöne Erlebnisse dabei. Ich lernte die Gedanken von Verliebten kennen, mit all ihren Träumen, Wünschen und Ängsten. Schon lustig, was ein fünfzehnjähriges Mädchen dachte, wenn es Hand in Hand mit seinem Freund durch die Stadt schlenderte. Am wichtigsten schien dabei stets die Frage zu sein, ob sie ihre Pickel ausreichend kaschiert hatte, ob sie sich ungeschickt beim Küssen anstellen würde, und wann
er
wohl das erste Mal ihre Brüste berühren wollte, und natürlich, ob sie dann auch nicht zu klein geraten sein würden.
Traurig machten mich die Gedanken der alten Menschen. Ihr Leben schien voller Angst und Hoffnungslosigkeit zu sein. Ständig kreisten ihre Gedanken um den eigenen Tod. Die wichtigsten Termine schienen die wöchentlichen Arzttermine zu sein. Dabei machte sich dann eine große Ehrfurcht, aber auch ein großes Misstrauen gegenüber den Medizinern bemerkbar. Verschweigt er mir etwas? Warum hat er mir dieses Mal kein Blut abgenommen? Warum bekomme ich nicht die gleichen Tabletten wie meine Nachbarin, obwohl ich doch noch viel schlechter Luft bekomme als sie?
Auch von Kindern nahm ich viele pessimistische Gedanken wahr, was mich sehr erstaunte.
Immerhin sprach man doch von der „glücklichsten Zeit des Lebens“, wenn man von der Kindheit redete. Doch die Kleinen wurden von Tausenden Ängsten gefoltert, wobei Monster und Hexen noch die unbedeutendsten Rollen einnahmen. Vielmehr ging bei ihnen die Angst um, die Eltern könnten sie im Stich lassen, oder der Oberrüpel aus der Nachbarklasse könnte wieder ihre Schultasche in den nächsten Mülleimer werfen.
So richtig glücklich waren seltsamerweise nur meine Artverwandten, die sogenannten „geistig Behinderten“.
Im Gegensatz zu den körperbehinderten Außenseitern, waren sie sich ihrer besonderen Stellung in unserer egoistischen Gesellschaft überhaupt nicht bewusst. Für sie gab es nur einen Mittelpunkt, und das waren sie selber. Alles andere war unwichtig, außer dem Zeitpunkt ihrer nächsten Mahlzeit vielleicht. Ansonsten konnten sie sich stundenlang an den Geräuschen eines rauschenden Brunnens erfreuen, ohne sich auch nur die geringsten Sorgen machen zu müssen, was der nächste Tag für negative Ereignisse bereithalten würde. Am symphatischsten waren mir die Kinder mit dem Down-Syndrom, den so genannten “Mongoloiden“.
Sie waren tatsächlich
nie
unglücklich! Solange jemand in ihrer Nähe war, der ihnen ab und zu über das Haar strich, waren sie voll und ganz zufrieden. Zwar fiel es mir schwer, ihre Gedanken lesen zu können, aber gelang es mir erst einmal, diese Fremdsprache übersetzen zu können, machte es mir reichlich Freude.
In diesen Tagen verbrachte ich meine Zeit also mit Gedankenlesen und Tagträumen. Ich träumte von Irland, von Guinness und vom Geräusch des tanzenden Regens. Regen, der auf meine Haare prasselte, und der sich anfühlte wie warme Streicheleinheiten.
Eines Tages wurden
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