Gnadenlose Gedanken (German Edition)
mit mir sprachen, als sei ich ein zweijähriges Kind, was seine Mami verloren hatte.
Veronika war bisher ganz locker und offen mit meiner Behinderung umgegangen. Aber vielleicht war sie ja doch nur aus Mitleid so lieb zu mir gewesen? Ich hatte mir in Irland etwas vorgenommen, etwas sehr Großes. Wenn ich das verwirklichen wollte, dann musste ich es sehr bald erledigen. Denn ansonsten würde der Koloss immer mehr und immer wilder durchdrehen. Und dafür wollte ich nicht verantwortlich sein. Aber ich konnte nicht warten, bis Manfred wieder fit sein würde, das würde noch viele Wochen dauern. Ich konnte aber auch nicht warten, bis mir die Krankenkasse einen neuen Pfleger zuteilen würde. Auch das würde mindestens einige Tage brauchen. Bis dahin hatte der Koloss wohlmöglich schon meine gesamte Familie, alle ehemaligen Freunde und Klassenkameraden getötet. Vielleicht sogar alle Bewohner meines Hauses oder meiner Strasse. Diese Überlegungen hielt ich nicht für übertrieben, dafür hatte ich zu tief in den schwarzen Gedanken des Kolosses gebohrt. Ich musste schnell zurück nach Deutschland, am besten noch heute. Aber alleine konnte ich nicht reisen. Also entschloss ich mich dazu, Veronika die Wahrheit zu erzählen. Und zwar die ganze Wahrheit.
Ich ließ kein Detail aus. Wenn ich sie schon mit da hineinziehen würde, dann sollte sie auch alles wissen. Sie hatte eine schwierige Entscheidung zu treffen, und es war nur fair, wenn sie dazu alle Fakten kannte. Sollte sie mich doch für verrückt halten! Welche andere Wahl hatte ich denn schon? Außerdem waren meine Zweifel bei Manfred auch unbegründet gewesen, er hatte sich sofort dazu bereit erklärt, mir zu helfen.
So spontan wie Manfred reagierte Veronika aber nicht, und das gefiel mir.
„Was macht dich denn so
sicher
, dass du dir diese Fähigkeit nicht nur einbildest? Ich meine, du sagst, du hast monatelang in einer Art Isolation gelebt, hast dich nicht unter die Menschen gewagt. Du sagst, du hättest ernsthafte Selbstmordgedanken gehabt. Also ganz ehrlich, Robert. Ich wäre an deiner Stelle schon längst durchgedreht! Was macht dich nur so verdammt sicher?“
„Anfangs habe ich ja auch an meinem Verstand gezweifelt. Weil es mir einfach zu viel Spaß gemacht hatte, durch die Gehirne anderer Menschen zu schlendern. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Es macht mich krank, wenn ich mir die Sorgen und Gefühle, die Ängste und Zweifel der Menschen anschaue. Ich will es nicht mehr! Aber trotzdem
kann
ich es noch! Und dieser Koloss, dieses Monstrum, will mich, ich weiß es! Es wäre mir lieber, wenn es nicht so wäre. Ich wäre überglücklich, wenn ein Krankenwagen vorfahren würde und man mich mitnähme. Wenn man mich in eine weiße Zelle sperren würde, und mich, um ganz sicher zu gehen, im Rollstuhl fixieren würde. Wenn man mir dann nach jeder Mahlzeit eine Beruhigungsspritze verabreichen würde. Und wenn der Koloss nur in meinem kranken Hirn weiterleben würde. Ich wäre sehr glücklich, wenn es so wäre, das kannst du mir glauben! Aber er existiert.
Ich weiß es
!!!“
Mein Puls raste, ich schwitzte wie nach einem zweistündigen Saunagang. Ich hatte Veronika angeschrieen. Während sie mir ganz ruhig zugehört hatte, waren die Menschen auf dem Schulhof wieder auf mich aufmerksam geworden. Diesmal musste ich nicht ihre Gedanken lesen, um zu wissen, was sie von mir hielten. Aber das war mir so was von scheißegal!
„Ok“, sagte sie nur.
„Und wie hast du dir alles Weitere vorgestellt? Wenn der Typ nur halb so stark, groß und gefährlich ist, wie du ihn mir beschrieben hast, ist er immer noch praktisch unbesiegbar für einen normalen Sterblichen. Du bist ein Rollstuhlfahrer, der ohne fremde Hilfe keine Treppe überwinden könnte. Es mag sich vielleicht hart oder zynisch anhören, aber was, bitteschön, willst du gegen diesen Riesen ausrichten? Willst du ihn mit einer Steinschleuder niederstrecken, wie einst David den Goliath? Oder willst du ihn einfach mit deinem Rollstuhl zu Brei fahren? Oder wie hast du dir das vorgestellt?“
Es waren natürlich berechtigte Fragen und ich empfand sie keineswegs als zynisch. Und zum wiederholten Male musste ich mir eingestehen, dass ich einfach keine Ahnung hatte. Ich wollte den Koloss finden, (was bestimmt das einfachste Problem in dieser Geschichte darstellte, bedachte ich, wie sehr er in mich vernarrt war!), und dann mal weitersehen. Das war natürlich naiv, aber welchen Plan sollte ich mir denn auch schon
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