Gnadenthal
abstimmen müssen, und bei dem Gedanken daran wurde ihm mulmig. Nicht von allen Sketchen, die er ausgesucht hatte, gab es Videomitschnitte. Möglicherweise würden sie einiges neu aufzeichnen müssen. Hatten sie noch die gleiche Frische, würden sie die Dinge nach all den Jahren noch einmal überzeugend rüberbringen?
Er merkte, wie seine Laune weiter in den Keller ging. Die ersten zwei, drei Tage waren für ihn jedes Mal schlimm. Das, was in den Anfangsjahren für alle völlig in Ordnung gewesen war, ging ihm inzwischen furchtbar auf die Nerven: all das basisdemokratische Gesülze, die Scheingefechte, die Abstimmerei. Erst wenn die Proben losgingen, fing es an, Freude zu machen, dann wusste er wieder, warum er der ‹13› so viel Zeit widmete und die ganzen Jahre dabeigeblieben war.
Er schob die Kopien zusammen und legte sie in eine Kladde. Dann schloss er das Fenster.
Eine Runde durch den Park würde ihm gut tun, er wollte sich die Skulpturen anschauen.
Die Morgenwolken hatten sich verzogen, die ersten gefallenen Blätter leuchteten goldgelb im Gras.
Er ertappte sich dabei, dass er einfach nur dastand und tief die würzige Luft einatmete. Eigentlich war er von klein auf eher ein Sommerkind gewesen, die Zeit von November bis März hatte er immer nur irgendwie überstanden. Mittlerweile mochte er den Herbst, selbst der November hatte am Niederrhein seine eigene melancholische Schönheit.
Der Dezember allerdings war für ihn immer noch schwer zu ertragen. Da stand er bis in die Puppen im Laden und machte zähneknirschend den ganzen Weihnachtsrummel mit, denn das waren die Wochen im Jahr, in denen er den meisten Umsatz machte.
Vom Dunklen ins Dunkle, dazwischen nur künstliches Licht.
Und Heiligabend, wenn die anderen anfingen zu feiern, wollte er sich einfach nur ins Bett legen und zehn Stunden schlafen. Nun denn, dieses Jahr würde ihn keiner daran hindern.
Monika hatte alljährlich ein perfektes Festprogramm auf die Beine gestellt: einen deckenhohen, üppig geschmückten Tannenbaum, geheimnisvolle Päckchen, Kerzenschein und Pfefferkuchen. Und natürlich ein Menu: Gänsekeulen mit Pfanniknödeln und Rotkohl aus dem Glas, als Dessert die neueste Kreation aus dem Hause ‹bofrost›. Hauptsache weihnachtlich.
Am ersten Feiertag dann zu ihren Eltern, wo sich auch ihre Geschwister samt Nichten und Neffen einfanden, die alle sehr individuell beschenkt wurden: ‹Playmobil› für die Kleinsten, ‹Lego› für die etwas Älteren, für die «Großen» Computerspiele. Bücher hatten nie zur Diskussion gestanden.
Er war bei der ersten Skulptur angekommen und schüttelte die Erinnerung ab.
Aus schwarzem Stein, nicht besonders groß, ein Mann und eine Frau im innigen Kuss vereint, zwischen ihnen ein Baby, das an ihren prallen Brüsten saugte, sein deutlich sichtbarer Penis. Erotisch? Nein, eher zärtlich, anrührend.
Langsam wanderte er weiter: ein Frauenleib mit drei Köpfen und sechs Brüsten, ein wunderbar ausladender Hintern mit Vulva, der Stein so glatt, dass man ihn berühren wollte.
Die Kunstwerke standen auf den unterschiedlichsten Stelen, fast willkürlich verteilt zwischen Büschen und Sträuchern, manche auf bemoosten Baumstümpfen, und fügten sich so perfekt in die Atmosphäre des alten Parks ein.
«Sie sind rührend und wunderschön, nicht wahr?» Dagmar war zwischen die beiden Blutbuchen getreten und beobachtete ihn.
«Ja», sagte er nur. «Wie geht’s dir?» Sie sah müde aus.
«Nicht besonders. Ich habe miserabel geschlafen, und Rüdiger ist auch noch ziemlich schlecht drauf.»
«Wo steckt er?»
«Er liest noch, und dann wollte er los und ein paar Kästen Bier besorgen.»
Frieder hatte mühelos die Rollen gewechselt, keine Champagnerlaune mehr, kein «Kinder, wie habe ich euch vermisst», kein «Seele baumeln lassen».
Er hatte Rüdiger Stift und Block hingelegt – «Du kannst heute Protokoll führen» – und dann das «Meeting» eröffnet. Seit über zwei Stunden diskutierten sie nun schon darüber, welche Sketche in den ‹Best of›-Teil der Fernsehaufzeichnung aufgenommen werden sollten, und drehten sich im Kreis.
«Martin», meinte Frieder irgendwann nachdrücklich, «wir können doch nicht nur Nummern bringen, bei denen den Leuten das Lachen im Hals stecken bleibt. Man muss auch mal entspannen können, sonst erstickt man doch.»
«Na ja», wandte Rüdiger ein, «auch im politischen Kabarett gibt es krachige Pointen.»
Und weiter ging’s.
Schließlich konnte Kai seinen
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