Gnadentod
Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind sehr alt geworden und friedlich von uns gegangen.«
»Vielleicht hat ihn das beeindruckt«, sagte Milo. »Dass er gesehen hat, wie es idealerweise sein sollte.«
Alice Zoghbie stellte ihre langen Beine nebeneinander. »Ich versuche Ihnen beiden verständlich zu machen, dass Eldon eine Perspektive hatte, die die ganze Welt umfasst hat.«
»Er hatte das große Bild vor Augen.«
Sie warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Über ihn zu reden macht mich sehr traurig.«
Weder Milo noch ich sagten etwas darauf.
Sie sah uns beide an, als wartete sie auf eine Reaktion. Auf einmal füllten sich ihre blauen Augen, und Tränen kullerten ihre Wangen hinunter, die in einer perfekten parallelen Linie zu ihrer schmalen Nase flossen. Sie saß unbeweglich da, bis die Spuren ihre Mundwinkel erreichten, bevor sie die Hand hob und sie mit ihren spinnenartig aussehenden Fingern abtupfte. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr.
»Ich hoffe doch sehr, dass sie den bösartigen Drecksack zu fassen kriegen, der das getan hat. Damit dürfen sie nicht davonkommen. Das wäre das Allerschlimmste«, sagte sie.
»Sie?«
»Sie, er, egal.«
»Was wäre das Allerschlimmste, Ma’am?«
»Wenn es keine Konsequenzen hätte. Alles sollte Konsequenzen haben.«
»Nun ja«, sagte Milo, »es ist mein Job, bösartige Drecksäcke zu fassen zu kriegen.«
Sie warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu.
»Ma’am, haben Sie uns irgendwas zu sagen, was uns dabei helfen könnte?«
»Es reicht jetzt mit diesem Ma’am, okay?«, sagte sie. »Das klingt mir zu herablassend. Habe ich Ihnen irgendwas zu sagen? Klar, halten Sie nach einem Fanatiker Ausschau - wahrscheinlich einem religiösen Extremisten. Ich würde auf einen Katholiken tippen, die scheinen mir die Schlimmsten zu sein. Obwohl ich mit einem Muslim verheiratet war, und die sind auch nicht gerade das Gelbe vom Ei.« Sie neigte ihren Kopf nach vorn, als sie Milos Gesicht musterte. »Und wo liegen Ihre religiösen Wurzeln?«
»Ich bin eigentlich katholisch erzogen worden, Ma’am.«
»Ich auch«, erwiderte sie. »Ich habe auf den Knien meine Sünden gebeichtet. Was für ein Quatsch. Schade um uns beide. Kerzen und Schuldgefühle und der ganze Blödsinn, der von diesen impotenten alten Männern mit ihren komischen Hüten verzapft wird - ja, ich würde definitiv nach einem Katholiken Ausschau halten. Oder nach einem wiedergeborenen Christen. Auf jeden Fall nach irgendeinem Fundamentalisten. Orthodoxe Juden sind genauso schlimm, aber sie scheinen nicht diese Vorliebe für Gewalt zu haben wie die Katholiken, vielleicht weil nicht so viele von ihnen da sind, dass sie großspurig auftreten könnten. Fanatiker sind alle aus demselben Holz geschnitzt: Gott ist auf meiner Seite, ich kann alles tun, wonach mir zum Teufel noch mal der Sinn steht. Als wären der Papst oder der Imam Soundso zur Stelle, wenn ein Mensch, der dir etwas bedeutet, sich in Qualen windet und beinahe an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Dieser ganze Recht-aufs-Leben-Kram ist geradezu obszön. Das Leben ist ein heiliges Gut, aber es ist okay, Bomben auf Abtreibungskliniken zu werfen oder Ärzte abzuknallen. Man hat an Eldon ein Exempel statuiert. Suchen Sie nach einem religiösen Fanatiker.«
Sie lächelte, was keineswegs zu ihrer Schmährede passte. Ihre Tränen waren inzwischen wieder getrocknet.
»Wo wir gerade über Sünden reden«, sagte sie. »Heuchelei ist die schlimmste von allen. Warum, zum Teufel, können wir nicht den Blödsinn, den sie uns während der Kindheit erzählen, hinter uns lassen und lernen, unabhängig zu denken?«
»Konditionierung«, sagte ich.
»Das ist etwas für niedere Arten. Wir sollten eigentlich eine Stufe darüber sein.«
Milo zog seinen Notizblock hervor. »Wissen Sie etwas von irgendwelchen Drohungen, die in letzter Zeit gegen Dr. Mate ausgestoßen wurden?« Die Klarheit dieser Frage - die Polizeiroutine - schien sie zu langweilen. »Falls es so etwas gab, hat Eldon mir nichts davon erzählt.«
»Was ist mit seinem Anwalt, Roy Haiseiden. Kennen Sie ihn ebenfalls?«
»Ich bin ihm schon begegnet.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo er ist, Ma’am? Es ist uns bisher noch nicht gelungen ihn aufzuspüren.«
»Roy ist überall und nirgends«, sagte sie. »Ihm gehören Waschsalons im gesamten Bundesstaat.«
»Waschsalons?«
»Münzautomaten in Einkaufsmeilen. Damit verdient er sein Geld. Was er für Eldon tut, reicht für seinen Lebensunterhalt nicht aus. Es hat
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