Gnadentod
Pressekonferenz, die Haiseiden nach einem der Prozesse einberufen hat. Er sagte, Mate verdiene den Nobelpreis und dass er als Mates Anwalt einen Teil des Geldes verdienen würde.«
Milo ballte seine freie Hand zur Faust. »Ich habe den Auftrag, ihn aufzuspüren, an Korn und Demetri weitergegeben, aber jetzt nehme ich das persönlich in die Hand. Ich fahre jetzt zu ihm nach Hause. Er wohnt in South Westwood. Ich kann dich am Revier rauslassen, du kannst aber auch mitkommen.«
Ich sah auf die Uhr, es war fast fünf. Es war ein langer Tag gewesen. »Ich sage Robin kurz Bescheid, dann komme ich mit.«
Wir gingen über die Straße zu seinem Wagen. Milo verschloss die Tüte mit der Schachtel im Kofferraum, ging um den Wagen herum zur Fahrertür, wo er stehen blieb und einen Blick nach links warf.
Die hispanische Frau hatte sich nicht gerührt. Milo drehte sich um. Sie wandte rasch den Kopf ab, und mir war klar, dass sie uns beobachtet hatte.
Ihre Augen ruhten wieder auf der Zeitung. Die Zeitung bewegte sich. Doch es war kein plötzlicher Windstoß aufgekommen, sondern ihre Hände hatten fester zugegriffen. Ihre Tasche, ein Makrameebeutel, hatte sie auf das Gras gelegt.
Milo musterte sie. Sie beachtete ihn nicht, sondern fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und vergrub ihre Nase noch tiefer in das Zeitungspapier.
Gerade als er sich von ihr abwendete, glitt ihr Blick - nur für eine Sekunde - hinauf zu Mates Wohnung.
»Einen Moment«, sagte er und ging in ihre Richtung.
Ich folgte ihm. Ihre Hände umfassten die Zeitung noch fester. Sie zog ihre Lippen nach innen. Ich kam so nahe heran, dass ich das Datum lesen konnte. Die Zeitung von gestern. Der Anzeigenteil. Die Stellenanzeigen …
Milo sagte: »Ma’am?«
Die Frau sah auf. Ihre Lippen kamen wieder zum Vorschein. Sie waren dünn und leicht violett, aufgesprungen und geschürzt, um die Ränder weiß ausgebleicht. Im Übrigen war ihre Hautfarbe muskatbraun, außerdem hatte sie Tränensäcke.
Sie war zwischen fünfzig und sechzig, klein und kräftig, hatte ein rundliches Gesicht und große, hinreißende schwarze Augen. Sie trug eine marineblaue Fliegerjacke aus Polyester über einem blauweißen Blumenkleid, das ihr bis zur Mitte der Waden ging. Der Stoff des Kleides sah fadenscheinig aus, es rutschte an ihrem stämmigen Körper hoch und blieb an ihren Fettwülsten hängen. Ihre dicklichen Knöchel wölbten sich über den oberen Nähten der alten, aber sauberen Nike-Turnschuhe. Heruntergerollte weiße Socken entblößten wund gescheuerte Schienbeine. Ihre Fingernägel waren gerade abgeschnitten. Ihre schwarzen Haare waren von grauen Strähnen duchzogen und zu einem Zopf gebunden, der ihr bis über die Taille reichte. Ihre Haut war schlaff um Hals, Unterkiefer und Backenhörnchenwangen, doch über ihrer breiten Stirn war sie straff gespannt. Kein Make-up, kein Schmuck.
Während meiner Zeit am Western Peds hatte ich mehrere hispanische Frauen kennen gelernt, die sich für dasselbe natürliche Aussehen entschieden hatten. Lange Haare, immer zum Zopf gebunden, und in Kleidern, niemals in Hosen. Fromme Frauen, der Pfingstbewegung zugehörige Christen.
»Kann ich etwas für Sie tun, Ma’am?«
»Sind Sie … Sie sind von der Polizei, richtig?« Ihre Stimme klang jung, rauchig und ein wenig unsicher. Sie sprach akzentfrei mit fast unmerklicher Abschwächung am Ende jeder Silbe.
»Ja, Ma’am.« Milo hielt ihr sein Abzeichen hin. »Und Sie sind …«
Sie griff in den Makrameebeutel, zog eine rote Plastikbrieftasche mit Alligatordruck hervor und präsentierte ihren eigenen Ausweis, als sei das schon häufig von ihr verlangt worden.
Dann folgte die Sozialversicherungskarte, die sie Milo ebenfalls unter die Nase hielt. »Guillerma Salcido«, las er.
»Guillerma Salcido Mate«, sagte die Frau herausfordernd. »Ich benutze seinen Namen nicht mehr, aber das ändert nichts daran. Ich bin immer noch Dr. Mates Frau - seine Witwe.«
10
Guillerma Mate stand aufrechter da, als hätte die Behauptung ihr neue Kraft verliehen. Sie nahm Milo die Sozialversicherungskarte aus der Hand und steckte sie zurück in ihre Tasche.
»Sie sind mit Dr. Mate verheiratet?« Er klang nicht überzeugt.
Sie griff erneut in ihre Tasche und zog ein weiteres Blatt Papier heraus, eine schmuddelige zerknitterte Heiratsurkunde, deren fotokopierte Beschriftung zur Farbe von unbehandeltem Sperrholz verblasst war. Ausstellungsdatum vor siebenundzwanzig Jahren, City of San Diego, County of San Diego.
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