Gnosis
Charlie am meisten bewunderte, war der Umstand, dass seine Beliebtheit den Jungen nicht zu beeindrucken schien.
Er war weder anmaßend noch arrogant. Er machte nicht mit, wenn die anderen auf einem Sonderling herumhackten. In vielerlei Hinsicht erinnerte Charlie ihn an Winter Xu. Er lächelte bei der Vorstellung, dass beide zusammen die Oppenheimer School besuchen würden. Charlies Eltern hatten sich mehr gefreut als die Xus und die Cohens, als Laszlo ihnen die gute Nachricht überbrachte.
Dennoch wurde Laszlo schwer ums Herz, denn als er das letzte Mal mit den Eltern eines hochbegabten Kindes zum Essen ausgegangen war, hatte er Darian bei sich gehabt.
Seit er Charlie entdeckt hatte, war ihm in den Schulen, die er besuchte, kein weiteres außergewöhnliches Kind begegnet. Zwar schimmerte hin und wieder eine Gabe durch, doch konnte keiner auch nur im Entferntesten Elijah, Winter oder Charlie das Wasser reichen. Dennoch wünschte er, er könnte alle sensiblen Kinder in die Oppenheimer School vermitteln, damit sie eine angenehmere und empathischere Umgebung hätten. Aber Samantha hatte es ganz deutlich gesagt: Sie wollte mehr als nur einen Funken dieser Gabe sehen. Sie wollte ein wahres Freudenfeuer.
Und so machte sich Laszlo an jedem Schultag auf die Suche nach diesem starken Gefühl der Verbundenheit, das er nur mit anderen Empathikern teilte. Und jeden Abend, wenn Laszlo in den Schlaf hinüberdämmerte, lächelte er, wohl wissend, dass er Elijah, Winter und Charlie bereits geholfen hatte. Nur morgens – verschlafen und bei klarem Verstand – fragte er sich, ob das, was er tat, wirklich eine so gute Idee war.
Obwohl Elijah dem Neuen gegenüber anfangs skeptisch gewesen war, musste er diesen Charlie einfach mögen, nachdem er ihn etwas besser kennengelernt hatte. Charlie war zwar erst elf, für sein Alter aber erstaunlich erwachsen. Über das Thema Film fanden Elijah und er schnell zueinander, während Winter das enzyklopädische Wissen des Jungen zum Thema Rockmusik zu schätzen wusste.
Er war wie der kleine Bruder, den Elijah nie gehabt hatte. Noch nie zuvor hatte jemand zu Elijah aufgeblickt. Das tat gut. Außerdem beruhigte es Elijah, wenn Charlie in der Nähe war und er mit Winter nicht allein sein musste. Die Mahlzeiten, bisher unbeholfene Pseudo-Rendezvous, waren jetzt lange, lustige Gespräche. Sie sprachen über alles – früheste Kindheitserinnerungen, wie es sich anfühlte, anders zu sein, usw. Vor allem aber sprachen sie über die Zukunft.
«Was willst du mal werden, wenn du groß bist?», fragte Charlie eines Abends zwischen zwei Hot-Dog-Bissen.
«Wenn ich es mir aussuchen könnte, möchte ich Musikerin werden», sagte Winter. «Aber ich glaube, ich bin nicht gut genug.»
«Soll das ein Witz sein?» Elijah war ehrlich sprachlos. «Dein Solo beim Herbstkonzert war unglaublich!»
Winter errötete. «Danke.» Das Kompliment brachte ihre Farben zum Leuchten, doch schon wurden sie wieder dunkler. «Wieso warst du eigentlich da? Im Publikum saßen doch fast nur Eltern.»
Nun war es an Elijah, rot zu werden. Und dass er wusste, wie gut sie seine Verlegenheit «hören» konnte, machte alles nur noch schlimmer. Er schluckte und starrte seinen Teller an. «Ich g-g-glaub … ich glaube, man könnte sagen, ich bin ein Fan von dir.»
Er blickte auf, und sie sahen sich in die Augen. Ihm war klar, dass sie nicht so für ihn empfand wie er für sie, aber sie lächelte ihn freundlich an. «Mein erster Fan.»
«Und du, Elijah?», fragte Charlie und lenkte das Gespräch dankenswerterweise in ungefährlichere Gefilde. «Was willst du mal werden?»
«Meine Mom sagt, ich soll Arzt werden, weil ich gut in Naturwissenschaft bin», sagte Elijah.
«Möchtest du denn Arzt werden?», fragte Winter.
«Eigentlich nicht», sagte Elijah.
«Warum gehst du nicht nach Hollywood?», fragte Charlie. «Werd ein großer Regisseur oder so was! Du weißt doch jetzt schon alles über Filme.»
«Weiß nicht …», sagte Elijah. «Ich glaub, da gibt es reichlich Konkurrenz.»
«Wenn ich eine berühmte Musikerin werde», sagte Winter, «wirst du bestimmt ein berühmter Regisseur.»
«Meinst du wirklich?»
Winter zuckte mit den Achseln. «Wieso nicht?»
Elijah nickte zögernd und überlegte, weshalb er eigentlich noch nie darüber nachgedacht hatte, nach Hollywood zu gehen. Seine Mutter würde es nicht erlauben – deshalb. Und Elijah hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass seine Mutter ihren Willen immer durchsetzte. Da
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