Gnosis
wieder wie vorher – freundlich, etwas verwirrt, apathisch. Sie seufzte vor Erleichterung. Auf gar keinen Fall wollte sie Samantha enttäuschen.
Samantha.
Jill wurde ganz warm ums Herz. Wie schön der Name war. Temperamentvoll und exotisch. Nicht schlicht und langweilig wie ihr eigener. Jill wünschte …
Plötzlich fühlte sie eine Woge von Gefühlen aufkommen: unbändige Freude und Erleichterung. Jill riss die Augen auf und starrte an die Wand. Drüben hatte irgendetwas Laszlo gerade sehr glücklich gemacht. Sie suchte seinen Geist ab, doch die leuchtenden Farben, die Jill aus ihrer Träumerei gerissen hatten, waren schon verblasst. Sie versuchte, tiefer nachzubohren, doch da war nichts. Wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet.
Er war nicht stark genug, um sich von ihr zu lösen. Aber trotzdem …
Sie öffnete die Schublade in ihrem Nachtschränkchen und nahm die dunkelblaue Bibel heraus. Dann schlüpfte sie unter der Decke hervor, kniete sich auf den Boden und schlug ihre Lieblingsstelle auf: Epheser, Kapitel 6, Vers 11. Sie holte tief Luft und las laut.
«Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.»
Genau das wollte Jill tun. Sie wollte sich gegen den Teufel wehren, ganz gleich, welche Gestalt er annehmen mochte. Auch wenn er die Gestalt Laszlo Kuehls annahm.
Wie ein rostiges Messer sägte sich das schrille Klingeln in Laszlos Wahrnehmung. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem Telefon. «Hallo …?»
«Guten Morgen, Sir. Ihr Weckruf. Es ist vier Uhr.»
Laszlo legte auf und spuckte den harten Tabak in den Müll. Eilig griff er in die Dose auf dem Nachtschrank und nahm den nächsten braunen Klumpen. Ihm wurde übel, aber er zwang sich zu kauen.
Er verschluckte sich an seinem klebrigen Speichel und hustete. Instinktiv beugte er sich über den Mülleimer, besann sich aber. Wenn er die anderen täuschen wollte, durfte er nicht ausspucken. Er schloss die Augen und schluckte den Speichel herunter. Sein Magen wollte rebellieren, aber er schaffte es, an sich zu halten. Stattdessen lutschte er auf dem neuen Kautabak.
Laszlo taumelte ins Badezimmer und starrte sein Spiegelbild an. Er sah fast genauso furchtbar aus, wie er sich fühlte. Es schien, als wäre er über Nacht um zehn Jahre gealtert. Dunkle, schwere Tränensäcke hingen unter seinen Augen. Die Haut war rissig und trocken. Er bückte sich und trank direkt vom Hahn, wobei er darauf achtete, seinen Kautabak nicht zu verschlucken.
Frisch und kühl lief ihm das Wasser die Kehle hinunter. Mit dem letzten Schluck spülte er sich den Mund aus und spuckte ins Becken. Das Wasser war trübe, dunkelbraun. Der Anblick war so ekelhaft, dass ihm die Magensäure in den Mund stieg, aber er schluckte sie herunter. Doch so grässlich ihm auch zumute war, er fühlte sich wieder wie ein Mensch.
Wie ein eigenständiger Mensch. Heute Morgen war er sogar noch klarer als am Abend vorher. Etwas beklommen tastete er den Geist des Mädchens ab.
Er fand ein mildes Chaos vor, von weichem Dunst umgeben, matt und still. Erleichtert zog sich Laszlo zurück. Solange sie schlief, war er mit seinen Gedanken ganz allein. Seit man ihn gefangen hielt (denn es war eine Form der Gefangenschaft, wie Laszlo sich eingestehen musste), hatte ihn das Mädchen allem Anschein nach jeden Morgen kurz nach dem Aufwachen mental an die Leine genommen.
Er dachte daran, wie sonderbar ihm morgens immer zumute gewesen war, und er folgerte daraus, dass sie ihn nicht gleich in den Griff bekommen hatte. Sie brauchte einige Sekunden, um ihn zu überwältigen. Jetzt konnte er die Rollen tauschen. Mit Hilfe seines nikotingeschützten Ichs würde er die Oberhand behalten.
Allerdings begriff er instinktiv, dass projizierte Gefühle ohne einen echten Kern nicht lange vorhielten. Das Mädchen hatte Laszlo erfolgreich steuern können, weil Samantha ihn manipuliert hatte. Er würde nicht mit ihr kommunizieren dürfen, dann konnte sie auch keinen Einfluss auf ihn haben. Ihm blieb nur die Flucht. Sollte sie nicht gelingen, konnte er immer noch mit seinem Tabakvorrat dafür sorgen, dass er klar
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