Gnosis
so wahr sein wie ihre Wirkung.
Daher muss Gott existieren. »
Jill nickte erleichtert. Zinser fuhr fort.
«Da Descartes’ Gottesvorstellung die von einem vollkommenen, allmächtigen, allwissenden Wesen war, ging der Philosoph also davon aus, dass Gott gütig ist. Als gütiger Gott würde er die Menschen nicht mit deren unvollkommenen Sinnen täuschen wollen. Daher glaubte Descartes, dass man unsere Sinne sehr wohl zum Verständnis der Welt benutzen kann – solange es in Verbindung mit deduktiver Argumentation geschieht.»
«Aber das ergibt doch keinen Sinn», sagte Charlie. «Also … dass wir unsere Sinne mit Verstand benutzen sollen, klingt ja gut, aber diese Logik, was Gott angeht … ich weiß nicht. Das beantwortet keine einzige Frage, zum Beispiel wieso die Kinder in Afrika leiden müssen.»
Zinser nickte. «Du hast völlig recht. Descartes selbst hat sich diesem Thema zwar nicht gewidmet, dafür aber ein anderer Philosoph namens Gottfried Leibniz. Leibniz war ein brillanter Denker. Er hat nicht nur die Infinitesimalrechnung und das Dualsystem erfunden, sondern er gehörte außerdem zum Triumvirat der westlichen Rationalisten.
Wie Descartes glaubte auch Leibniz an einen gütigen Gott. Daher schlug er mehrere Theorien vor, deren erste das Prinzip des zureichenden Grundes ist, welches postuliert, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht.»
«Aber was ist mit Hunger und Krankheiten?», fragte Elijah.
«Leibniz würde sagen: Alles, was geschieht – das Gute wie das Schlechte –, ist miteinander verbunden, und nur weil wir nicht verstehen, warum etwas geschieht, heißt das noch lange nicht, dass es dafür keinen Grund gibt. Gründe zu begreifen steht Gott zu, nicht dem Menschen.»
«Aber … wieso?», fragte Charlie.
Zinser zuckte mit den Schultern. «Leibniz glaubte, dass Gott immer das Beste tut. Deshalb muss Gott es wohl für das Beste halten, dass der Mensch nicht alles begreift.»
«Wäre eine Welt, in der die Menschen verstehen, warum Böses passiert, nicht besser?», fragte Charlie.
«Leibniz müsste es verneinen, denn wenn dem so wäre, hätte Gott dem Menschen eine solche Welt erschaffen – und nicht diese.»
«Was meinen Sie mit ‹diese›?», fragte Elijah. «Sie sagen es, als g-g-gäbe es mehr als diese eine Welt.»
«Leibniz glaubte daran. Er nannte es das Prinzip der Vielfalt – alles, was geschehen kann, wird auch geschehen. Das bringt die Existenz einer unendlichen Zahl von Welten mit sich. Da Gott jedoch immer die beste Wahl trifft, muss die Welt, in der wir leben, die beste aller möglichen Welten sein.»
«Aber wenn es so viel Böses auf der Welt gibt, wie kann unsere Welt dann die beste sein?», fragte Charlie. «Wäre die beste nicht eine, in der alle gut zueinander sind?»
«Dass es Böses auf der Welt gibt, bedeutet nicht, dass sie nicht die beste ist.»
«Tut es wohl.»
«Das lässt sich nicht sagen, weil man nicht weiß, was Gott für das Beste hält. Vielleicht ist es für Gott das Beste, wenn alle seine Geschöpfe, von den Amöben bis zum Menschen, möglichst glücklich sind. Oder vielleicht ist die beste Welt diejenige, in der der Mensch den besten Charakter herausbildet, was sich nur durch Entbehrungen erreichen lässt. Somit lässt sich unmöglich ein Beweis dafür erbringen, dass unsere Welt nicht die beste ist, da wir die Kriterien nicht kennen, nach denen das Beste definiert wird.»
«Die Wege des Herrn sind unergründlich», sagte Jill leise.
«Würde Leibniz heute leben, wäre er bestimmt deiner Meinung», sagte Zinser.
«Sind Sie Jills Meinung?», fragte Charlie.
Zinser antwortete nicht. Aber sie lächelte.
In dieser Nacht lag Elijah wach und dachte über die beiden widersprüchlichen Theorien nach, die Miss Zinser ihnen unterbreitet hatte. Der Empirismus klang ebenso vernünftig wie der Rationalismus, doch Elijah musste sich eingestehen, dass er keiner Philosophie folgen mochte, die Gott akzeptierte. Es war genau so, wie Miss Zinser sagte – Ockhams «Rasiermesser»: Je weniger Annahmen eine Theorie braucht, desto eher stimmt sie. Und Gott war in der Tat eine Annahme.
Der Umstand, dass er in einer Familie aufgewachsen war, in der Mutter und Vater nicht an denselben Gott glaubten, hatte Elijah eines vor Augen geführt – niemand konnte beweisen, dass sein Glaube richtig war. Für Elijah war Religion die reine Zeitverschwendung, da man ohnehin nie sicher sein konnte. Und deshalb konnte Elijah unmöglich an Gott glauben.
So klang der
Weitere Kostenlose Bücher