Gnosis
lebte im 12. Jahrhundert. Nur das ungewöhnlich dicke Panzerglas störte diese Illusion.
«Danke», sagte der alte Mann und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er massierte seine Hüfte und blickte zum Himmel auf, über den Sturmwolken zogen. «Seit ich mir die Hüfte gebrochen habe, plagt sie mich, wenn Regen kommt.»
«Wie ist das passiert?», fragte Solothurn, der für einen Moment vergaß, dass er nicht mit einer Tresenbekanntschaft plauderte.
Der alte Mann biss die Zähne zusammen. «Ich bin unglücklich gestürzt», sagte er mit schwerem, deutschem Akzent. «Ich habe mir die Hüfte, einen Arm und beide Beine gebrochen. Ein Wunder, dass ich überlebt habe. Gott hielt an jenem Tage wahrlich seine schützende Hand über mich. Er muss gewusst haben, dass er noch Großes mit mir vorhat, nicht?»
«Da haben Sie sicher recht.»
«Nun, wenn Sie mich entschuldigen würden … ich möchte gern vor der Messe noch ein wenig ruhen.»
«Natürlich.»
Solothurn verneigte sich. Dann verließ er das Schlafgemach, um wieder seinen Posten draußen vor der Tür einzunehmen. Die Hellebarde stellte er neben sich auf den Boden. Ihr Beil schimmerte im schwachen Licht der Halle. Als Solothurn die Klinge betrachtete, musste er daran denken, was Valentinus über den Tod gesagt hatte.
Und über Mord.
KAPITEL 12
31. DEZEMBER 2007 – 8:57 UHR (15 STUNDEN, 3 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Die ganze Nacht hatten sie in dem Lieferwagen, den Winter einem hilflosen Parkplatzwächter abgeluchst hatte, vor dem Lagerhaus in Brooklyn gewartet. Um neun Uhr morgens warteten schon hundert Leute auf dem Gehweg.
«Es braucht nur ein paar Samtkordeln und zwei Rausschmeißer», meinte SpyGurl.
«Diese Leute sind alle …»
«Gnostiker, ja.»
«Ich glaub, die haben einfach nicht mehr alle Nadeln an der Tanne», sagte Stevie.
«Woher wusstest du, dass sie hier sein würden?», fragte Winter.
«Ich hab mich öfter online beworben. Nach ein paar Versuchen haben sie mich tatsächlich eingeladen. Leider hat Valentinus mich erwischt.»
«Du bist ihm begegnet?», fragte Elijah.
«Nur ganz kurz. Er stand an der Tür und hat jeden einzeln begrüßt. Er hat mir die Hand gegeben und mich dann rausgeschickt. Er wusste, dass ich nicht dazugehört habe. Als hätte er es gespürt, als er meine Hand geschüttelt hat.»
Winter und Elijah sahen sich an.
«Jedenfalls hab ich draußen gewartet, um mich nach der Versammlung nochmal umzuhören. Aber als die Leute rauskamen, wollte keiner mit mir sprechen.»
«Vielleicht haben sie gesehen, wie er dich vor die Tür gesetzt hat», meinte Grimes.
«Dachte ich auch», sagte SpyGurl. «Also hab ich mich noch ein paarmal unter verschiedenen Namen beworben, bis ich wieder eingeladen wurde. Ich bin noch einmal hingegangen, habe aber gar nicht versucht, reinzukommen. Ich hab nur abgewartet, bis die Leute wieder rauskamen. Trotzdem haben sie nicht mit mir gesprochen. Sie sind normal reingegangen und als Bekehrte wieder rausgekommen. Es war richtig unheimlich.»
«Aber du schreibst doch in deinem Blog, du hättest einen Spitzel.»
«Hab ich auch», sagte SpyGurl. «Ich bin so einem Hosentaschenmacho grinsend gefolgt – nichts für ungut …» SpyGurl sah Grimes grinsend an, was er erwiderte. «Nach einer dieser Versammlungen ist er in eine Bar gegangen. Ein paar Drinks später hab ich mich an ihn rangemacht und so getan, als wäre ich auch dabei gewesen.
Ich konnte nicht viel aus ihm rauskriegen, hab ihm aber gesagt, dass er mir Bescheid sagen soll, wenn er wieder hingeht, damit wir uns verabreden können. Seitdem meldet er sich jedes Mal.»
«‘ne echte Femme fatale», sagte Stevie.
«Tja, ich bin zwar nicht so verführerisch wie du, aber ich tu mein Bestes», sagte SpyGurl. Dann sah sie wieder Winter an. «Was habt ihr jetzt vor?»
«Wir warten, bis die erste Gruppe rauskommt, schnappen uns einen Bekehrten und quetschen ihn aus.»
«Das wird nicht klappen.» SpyGurl schüttelte den Kopf. «Die kriegen das Maul nicht auf. Wenn ihr keinen Zaubertrank habt, würde ich mir an eurer Stelle einen neuen Plan ausdenken.»
Grimes grinste. «Na, dann pass mal auf …»
Unruhig fingerte Winter an ihrer Kette herum. Die Tür ging auf, und Leute kamen heraus. Sie gingen hintereinander her und machten immer wieder Platz für andere, die drinnen darauf warteten, vor die Tür zu kommen. An der Ecke trennten sich ihre Wege, und sie gingen wortlos auseinander, ohne sich zu verabschieden.
Winter
Weitere Kostenlose Bücher