Gnosis
so nah. In einer Viertelstunde konnte sie auf der anderen Seite vom Central Park sein. Dort konnte sie sich ein anderes Hotel suchen und …
Und was? Darauf warten, dass du die nächste Schlägerei auslöst? Bis du NOCH jemanden umbringst?
Winter schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht zurück. Nicht, solange sie nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Aber wie sollte das gehen? Hatte sie wirklich getan, was sie glaubte, getan zu haben? Sie wünschte …
Plötzlich knackte ein Zweig. Sie erstarrte und hörte ein Rascheln. Wahrscheinlich nur ein Eichhörnchen oder eine Ratte, aber
(sie spürte, dass da kein kleines Tier war, sondern ein Mensch)
sie wusste, dass es nicht stimmte. Das leise Summen in ihrem Kopf bestätigte es. Dann fuhr sie herum und sah ihn. Den blinden Mann. Er stand im Unterholz, drei Meter weiter. Neben ihm der große Schäferhund. Im Mondschein sah es aus, als grinste der Hund, mit offenem Maul, sodass Winter zwei Reihen weißschimmernder Zähne sehen konnte.
«Wer sind Sie?» Winters Stimme zitterte, ob jedoch vor Angst oder Kälte, konnte sie nicht sagen.
«Mein Name ist Laszlo Kuehl», antwortete der blinde Mann mit tiefer, heiserer Stimme. «Ich weiß, dass Sie sich nicht an mich erinnern, aber ich war einmal Ihr Lehrer.»
«Wann?»
«Als Sie ein kleines Mädchen waren.» Zögerlich tat er einen Schritt auf sie zu. «Vor siebzehn Jahren.»
KAPITEL 1
Eine Woche nachdem Jill Willoughby zum ersten Mal rote Flecken in ihrem Höschen entdeckt hatte, sah sie Farben, die gar nicht da waren. Wie die Punkte, die einem vor den Augen tanzten, wenn man direkt in die Sonne gesehen hatte. Jill versuchte, sich einzureden, dass das alles nur Einbildung war. Intuitiv jedoch wusste sie, dass die Farben real waren.
Und sie hatten etwas zu bedeuten.
Orange etwa: Orange war stets ein Ausdruck des Glücks. Sonnenuntergangsorange war das reine Vergnügen, grelles Neon-Orange eine etwas bedrückte Freude. Jill hatte keine Ahnung, woher sie wusste, was die Farben bedeuteten. Sie wusste es einfach. Und obwohl sie die Farben noch nicht lange sah, kam es ihr doch so vor, als wären sie schon immer da gewesen.
Als sie im nächsten Monat wieder ihre Regel hatte, sah sie die Farben sogar, obwohl gar niemand im Raum war. Als hätte sie mehr als zwei Augen … Augen, die durch Wände sehen konnten. Anfangs freute sie sich über ihre geheime Gabe. Sie hielt sie für einen Segen Gottes – so wie er Josef gestattet hatte, den Traum des Pharaos zu deuten.
Aber dann las Sarah Marks aus dem dritten Buch Mose, Kapitel 19. Sie begann wie bei jeder ihrer langatmigen Lesungen – Gott nannte dem guten, alten Moses die Gesetze: den Sabbat einhalten, keine Götzen, gib den Armen, nicht stehlen, nicht lügen, nicht den Namen Gottes lästern.
Dann las Sarah laut den Vers 26 vor.
«Ihr sollt nichts essen, in dem noch Blut ist. Ihr sollt nicht Wahrsagerei noch Zauberei treiben.»
Jill hatte das Gefühl, als spräche Gott durch dieses blonde Mädchen direkt zu ihr. Die nächsten vier Verse handelten von der Prostitution, von Schnitten ins eigene Fleisch und davon, wie man seinen Bart zu tragen hatte. Doch schließlich hörte Jill, wie Sarah den Satz vorlas: «Ihr sollt euch nicht wenden zu den Geisterbeschwörern und Zeichendeutern und sollt sie nicht befragen, dass ihr nicht an ihnen unrein werdet; ich bin der HERR, euer Gott.»
Jill blieb fast das Herz stehen. War sie das? Eine Zeichendeuterin? Es schien ihr lächerlich, aber wie wollte sie sich anders beschreiben? Sie brauchte mehr Informationen, aber sie konnte ja nicht einfach zu Schwester Ellen oder Pater Sullivan gehen und fragen: «Glauben Sie, ich kann Zeichen deuten?»
Sie schlug die Augen nieder und stellte fest, dass die Antwort offen vor ihr lag. Sicher hatte die Bibel zu diesem Thema noch mehr zu sagen. Das ganze Buch durchzuackern, wäre eine fast übermenschliche Aufgabe, aber nicht unmöglich. Außerdem war es ja auch nicht so, als hätten sie nach dem Abendessen noch sonderlich viel zu tun. Wenn sie und die anderen «Findelkinder», wie Carol sie nannte, ihre Hausaufgaben gemacht hatten, saßen sie meist beisammen und spielten Uno oder Monopoly.
Nach acht Jahren hatte Jill nichts dagegen, auch mal etwas anderes zu machen.
Also blätterte sie in jenem September jeden Abend in ihren abgewetzten Ausgaben des Alten und Neuen Testaments und suchte Hinweise auf Zauberer, Zauberei und Zeichendeuter. Die anderen Mädchen beklagten sich über
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