Gnosis
Jills ungeselliges Verhalten, doch am leuchtenden Türkis, das die Mädchen umgab, erkannte Jill, dass sie aus reiner Neugier motzten, nicht so sehr, weil sie ihr böse waren.
Insgesamt fand Jill in elf Büchern Hinweise auf Zauberei. Meist waren es nur Randbemerkungen, doch viermal waren die Verse mehr als deutlich.
Im fünften Buch Mose:
Unter euch soll niemand sein, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt oder Wahrsagern, Hellseherei, geheime Künste oder Zauberei treibt oder Bannungen oder Geisterbeschwörungen oder Zeichendeuterei vornimmt oder die Toten befragt. Denn wer das tut, ist dem HERRN ein Gräuel.
In der Offenbarung des Johannes:
Die Feigen aber und die Ungläubigen und Frevler und Mörder und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und alle Lügner, deren Teil wird in dem Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.
Im dritten Buch Mose:
Und Mann oder Weib, die unter euch Geisterbanner oder Zeichendeuter sind, sollen des Todes sterben. Mit Steinen soll man sie steinigen! Ihr Blut sei über ihnen.
Im zweiten Buch Mose:
Eine Zauberin sollt ihr nicht am Leben lassen.
Lange starrte Jill die letzte Zeile an. Sie war keine Bibelforscherin, aber die Zeile ließ keinen Raum für Missverständnisse. Sollte sie tatsächlich eine Hexe sein, dann durfte man das nicht auf die leichte Schulter nehmen – aber man würde auch nicht mit Pater Sullivan einfach darüber sprechen können.
Also behielt Jill ihre Gabe für sich.
Sie übte ihre Zauberkräfte eher unfreiwillig, denn sie sah die Farben immer, sogar im Schlaf, aber es war auch die einzige Sünde, die sie bei der Beichte für sich behielt. Wenn sie niederkniete, um Buße zu tun, betete sie stets zwanzig zusätzliche Vaterunser. Und doch wusste sie, dass sie ohne Beichte bis in alle Ewigkeit verdammt sein würde, falls sie vom Bus überfahren wurde oder so was in der Art.
Also tat Jill das Einzige, was ihr blieb. Sie betete. Obwohl sie die wundervollen Farben nur allzu gern betrachtete, betete sie doch jeden Abend, ihre Gabe möge so schnell verschwinden, wie sie gekommen war.
Jeden Morgen aber, wenn Schwester Kate sie weckte, war Jill schier überwältigt vom hellen Blau und dem ärgerlichen Grün. Und Jill wusste, dass wieder ein sündiger Tag begonnen hatte. Ein Tag, an dem sie – falls er mit ihrem Tode enden sollte – auf direktem Weg zur Hölle fahren würde.
Daher versuchte Jill, ein möglichst guter Mensch zu sein. Und immer sah sie brav nach links und rechts, wenn sie eine Straße überquerte – für den Fall, dass da ein Bus kam.
KAPITEL 2
Sorgfältig schrieb Elijah Cohen seinen Namen mit Bleistift auf das versiegelte Heft. Er gab sich alle Mühe, die wachsende Anspannung seiner Klassenkameraden zu ignorieren, und konzentrierte sich auf den Duft des frischgespitzten Bleistifts. Den Duft standardisierter Tests.
Er lächelte. Im Gegensatz zu den meisten Zwölfjährigen hatte Elijah Freude an Tests.
Nun war Elijah keineswegs ein Masochist – aber Herausforderungen gefielen ihm eben. Nicht dass Elijah oft gefordert wurde, wenn es um intellektuelle Leistung ging. Sich etwas einzuprägen war ihm immer leicht gefallen. Ohne die sozialen Kontakte, zu denen er hier gezwungen wurde, hätte es ihm auf der Middle School wahrscheinlich gut gefallen.
Und wenn Frösche Flügel hätten, würden sie sich beim Hüpfen nicht dauernd den Arsch anstoßen.
Das zumindest würde Stevie sagen.
Aber Elijah war nicht wie Stevie. Elijah war anders. Das Umkehrbild eines typischen Jugendlichen. Die anderen Kinder freuten sich auf die Pause, das Mittagessen, die Turnhalle. Elijah hatte Angst davor. Für alle anderen war ein Fragespiel im Unterricht etwas Unerfreuliches, aber für Elijah war es wie eine Überraschungsparty.
Das Beste an den Tests war, dass er nichts sagen musste. Zwar hatte Elijah allerhand zu sagen – er wusste alles besser und hatte immer eine Antwort für die Rüpel parat, die ihm nach der Schule zusetzten. Doch immer, wenn Elijah etwas sagte, gingen die Nerven mit ihm durch. Sein Mund war dann trocken wie ein hundert Jahre alter Schwamm, und er fing an zu stottern. Er stand nicht gern im Mittelpunkt, lieber hielt er sich im Hintergrund, beobachtete das Leben, statt daran teilzunehmen.
Als man ihn als «hochbegabt» einstufte, wurden die Hänseleien noch schlimmer. Zum Glück war auch Stevie dabei, und so hatte Elijah wenigstens einen Freund. Manches wurde jetzt besser. Zum
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