Gnosis
hatte. Sie war intelligent. Sie war schön. Sie war geheimnisvoll.
Und sie war bei ihm.
KAPITEL 11
Pater Sullivan konnte sehen, wie sich Jill von einem ansehnlichen Mädchen in ein Gespenst verwandelte. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Haut spannte, und die Augen traten aus den Höhlen. Die Finger waren nur noch Knochen, die Hände eines lebenden Skeletts. Ihre spitzen, langen Glieder ragten wie Stöckchen aus Rock und Bluse.
Bei ihrem bloßen Anblick krampfte sich sein Magen zusammen. Er entschied, dass es genug sein sollte. Am zwanzigsten Abend brachte er ihr ein Stück Brot und einen Apfel. Von dem Moment an, als er eintrat, ließ Jill den Teller in seinen Händen nicht mehr aus den Augen.
«Ich dachte, ich müsste fasten, um den Dämon zu vertreiben», sagte sie und starrte auf den Apfel.
«Das Fasten ist ein Mittel zum Zweck, doch nicht der Zweck an sich. Ich glaube kaum, dass eine kleine Mahlzeit deinen Glauben schwächen wird. Vielleicht verleiht sie dir Kraft für den Kampf, der dir bevorsteht.»
Fragend sah sie ihn an. «Sind Sie sicher?»
«Iss, Jill! Du musst etwas essen.»
Jill nickte und streckte ihre Hand aus. Sie bewegte sich in Zeitlupe, wie unter Wasser. Sie nahm den Apfel und hob ihn an den Mund. Sie biss hinein und zuckte vor Schmerz zusammen, dass ihr der Apfel aus der Hand fiel und in eine Ecke rollte.
«Aaaah!», heulte Jill und hielt sich den Mund.
Betreten sah Pater Sullivan sie an. Ihren abgebrochenen Zahn hatte er ganz vergessen. Er hob den Apfel auf, holte sein Schweizer Armeemesser aus der Hosentasche und schnitt ihn in dünne Scheiben. Zögerlich griff Jill zu.
Sie nahm einen kleinen Bissen, kaute vorsichtig und schluckte ihn herunter. Dann nahm sie ein Stück vom Brot. Mit der Zeit aß sie immer schneller, und nach fünf Minuten war alles aufgegessen. Den Apfel hatte sie so abgenagt, dass nur noch der Stängel und ein paar Kerne übrig waren.
Eine Weile sagten beide nichts, dann fragte Jill: «Was glauben Sie, was er will? Der Dämon, meine ich. Was will er von mir?»
«Dasselbe, was Satan von uns allen will. Uns vom rechten Weg abbringen.»
«Warum?»
«Die Offenbarung des Johannes berichtet davon, dass Satan einen Feldzug gegen Gott führte, doch Michael und seine Engel haben ihn aus dem Himmelreich verbannt:
‹ Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen.›»
«Ich dachte, der Teufel lebt in der Hölle.»
«Nein», sagte Pater Sullivan. «Der Teufel wandelt unter uns. Er wandelt auf Erden, prüft den Menschen, wie er es mit Hiob tat, um zu beweisen, dass Gottes Kinder Seiner Liebe unwert sind.»
«Und als ich Schwester Christina berührt habe …»
«Das war Satan, der dich zur Sünde verführen wollte.»
«Wenn es Sünde ist …», Jill blickte zu Boden, «… warum fühlt es sich dann so gut an?»
Als Jill aufwachte, ritzte sie das nächste Zeichen in die Wand. Es waren mittlerweile achtunddreißig. Jedes stand für einen Tag in der Hölle. Sie sah sich ihre abgemagerten Arme an. Als ihr Pater Sullivan die Handschellen angelegt hatte, waren die Fesseln anfangs schmerzhaft eng gewesen. Inzwischen saßen sie so locker, dass sie sich die Stahlringe bis zu den Ellenbogen hochschieben konnte. Die ständige Reibung hatte ihre Haut wundgescheuert, dass sie jetzt ganz rot war.
Sie löste einen lockeren Stein aus der Wand und legte ein kleines Loch frei. Darin lagen zwei welke Selleriestangen. Sie widerstand dem Drang, sich beide in den Mund zu stopfen, und brach lieber nur ein kleines Stück ab. So gut sie konnte, wischte sie den Schmutz ab und knabberte daran. Es schmeckte wie Dreck, doch das war ihr egal. Besser als nichts.
Sechs Tage war es her, seit Pater Sullivan ihr zuletzt etwas zu essen gegeben hatte (acht Selleriestangen, zwei Kräcker und einen Löffel Erdnussbutter), und sie wusste nicht, wann
(du meinst, OB)
sie wieder etwas bekommen würde.
Jill kaute, bis die Sellerie nur noch eine schleimige Paste war. Als der letzte Hauch von Geschmack herausgelutscht war, schluckte sie. Wie Melasse glitt die Sellerie ihre ausgedörrte Kehle hinunter, doch Jill hatte sich abgewöhnt, etwas zu trinken, wenn sie aß.
Ihre größte Angst war, kein Wasser mehr zu haben. Im Gegensatz zu fester Nahrung ließ sich Wasser nicht horten, weil sie es nirgendwo verstecken konnte. Seit Pater Sullivan ihr den Eimer gegeben hatte, war der
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