Goebel, Joey
der kleine Junge, den er als seinen Neffen kannte, war in Wirklichkeit sein kleiner Bruder. Das war die einzige neue Entwicklung, die Blue Gene begeisterte, allerdings würde Arthur vermutlich nie die Wahrheit erfahren, also brachte ihm das nicht viel.
Dann war da noch das arme Mädchen, das für ihn nur ein Name war. Das war das Traurigste daran: Er hatte nie eine Mutter gehabt, außer wenige Augenblicke lang, als sie ihn sterbend im Arm gehalten hatte.
Doch das Schwierigste war natürlich, sich John als seinen Vater vorzustellen. Henry war meist ein reservierter »Dad« gewesen, und als »Mom« war Elizabeth nicht halb so [447] fürsorglich gewesen wie sein »Kindermädchen«; diese beiden als Elternteile zu verlieren war nicht unbedingt niederschmetternd. Doch die Vorstellung, dass sein großer Bruder John sein Dad sein sollte – der Jugendliche, der ihn mit Fürzen zum Lachen brachte, der wüst feiernde Highschool-Schüler, der zwischendurch kurz vorbeischaute, am Telefon quatschte und zu schnell Auto fuhr, der Verbindungsstudent von Mitte zwanzig, der sich aus dem Leben ausklinkte, der Süchtige, der sich in einer Toilettenkabine verirren konnte, das ewige Kind… Während Blue Gene durch das Oberlicht in den Nachthimmel hinaufschaute, wurde ihm klar, dass er sich damit sein Leben lang auseinandersetzen musste: Vater war ein Kind.
Schließlich ging er wieder auf sein Zimmer, wo er lange wach lag und zerstreut durch einige Wrestling-Aufzeichnungen zappte. Den größten Teil des nächsten Tages verschlief er und wiederholte das gleiche Programm an den folgenden beiden Abenden: Um fünf fand er sich immer am Pool ein, während er ständig versuchte, zu irgendeinem Fazit zu kommen, wie er zu sich und seiner Familie stehen sollte, jetzt, da er wusste, dass er nur ein halber Mapother war. Einem Fazit am nächsten kam die Erkenntnis, dass er wenigstens nicht unheilbar krank war, dass er wenigstens noch alle seine Extremitäten hatte, dass er wenigstens nicht eine alternde Prostituierte war, die die ganze Nacht draußen am Story Boulevard stand, und dass er wenigstens nicht irgendeine verstümmelte Leiche war, die man an irgendeinem Bach oder in einem Wald gefunden hatte. Dort tauchten nämlich in Commonwealth County normalerweise Leichen [448] auf, falls sie überhaupt auftauchten. Und was Henry sagte, war ihm egal; dass er nur als halber Mapother geboren war, mochte durchaus der Grund dafür sein, dass er so geworden war, wie er war; und zu wissen, warum man so ist, wie man ist, stellt einen Luxus dar, der den meisten Menschen nie vergönnt ist.
Inzwischen war ihm das Bier ausgegangen, und obwohl er sich in dem Wein- und Spirituosenladen, der bequemerweise im Hotel untergebracht war, Nachschub hätte kaufen können, verzichtete er darauf. In der letzten Woche hatte er mehr getrunken, als gut für ihn war, und das rächte sich. Der Gedanke, noch mehr zu trinken, deprimierte ihn.
An dem Abend, als ihm das Bier ausging, wurde Blue Gene klar, dass er Musik hören wollte. Als er nach einem Abend, den er neben dem Pool gesessen hatte, wieder in sein schlichtes Zimmer zurückkam, wusste er genau, was er hören wollte. Er hatte jede Menge CD s im Wal-Mart gekauft, doch es gab nur eine Scheibe, die er während seines Aufenthalts im Ambassador Inn immer wieder hörte: eine, die speziell für ihn gemacht worden war.
Zum ersten Mal, seit er Jackie kennengelernt hatte, drehten sich seine Gedanken nicht hauptsächlich um sie. Sein überlasteter Verstand hatte sie weit nach hinten geschoben, doch je später die Abende wurden, desto mehr stahl sie sich wieder nach vorn. Er dachte daran, sie zu bitten, sich mit ihm an einem geheimnisvollen Ort zu treffen, der sie zum Lachen bringen würde, beispielsweise: Wir treffen uns unter der zwölften Bankreihe in der Kirche am February Boulevard. Doch er befüchtete, dass seine Depression noch schlimmere Formen annehmen würde, falls er von Jackie [449] nicht die erwünschten Signale bekäme. Aber wenn er die von ihr zusammengestellte CD hörte, fühlte er sich ihr näher.
Er legte sich auf eins der beiden Doppelbetten, dachte über die Songtexte nach und darüber, was Jackie ihm wohl damit sagen wollte, dass sie gerade diese Songs auf die CD gepackt hatte. Für Blue Gene stand fest, dass er aus den ausgewählten Songs etwas lernen sollte und dass die Auswahl der Songs von den Gesprächen beeinflusst war, die sie über seine Ansichten von der Welt geführt hatten. Doch jetzt wehrte er
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