Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Tragbalken und Stützen sind nicht physikalisch, sondern abstrakt. In Euklids Elementen ist der Stoff, aus dem die Beweise konstruiert werden, die menschliche Sprache — dieses schwer zu fassende, heikle Kommunikationsmedium mit seinen vielen verborgenen Fallstricken. Wie also steht es mit der architektonischen Stärke der Elemente? Ist es sicher, daß sie durch solide Strukturelemente aufrechterhalten wird? Oder könnte sie strukturelle Schwächen aufweisen?
Jedes Wort, das wir gebrauchen, hat für uns eine Bedeutung, die uns bei seiner Verwendung leitet. Je gebräuchlicher das Wort, desto mehr Assoziationen verbinden wir mit ihm, und desto tiefer wurzelt seine Bedeutung. Wenn also jemand die Definition eines gebräuchlichen Wortes gibt in der Hoffnung, daß wir bei dieser Definition verbleiben, dann ist von vornherein sicher, daß wir das nicht tun werden, sondern daß wir uns statt dessen zum größten Teil unbewußt von dem leiten lassen, was unser Gehirn in seinem Vorrat an Assoziationen vorfindet. Ich erwähne das, weil es Probleme dieser Art sind, die Euklid in seinen Elementen aufwirft, indem er versucht, geläufige Wörter wie „Punkt“, „Gerade“, „Kreis“ usw. zu definieren. Wie kann man etwas definieren, von dem jedermann bereits eine deutliche Vorstellung hat? Das ist nur möglich, indem man klar macht, daß das Wort als technischer Ausdruck aufzufassen ist und nicht mit dem gewöhnlichen, gleichlautenden Wort der Alltagssprache verwechselt werden darf. Man muß betonen, daß die Verbindung zum Alltagswort nur sehr suggestiver Natur ist. Nun, Euklid hat das nicht getan, denn er war der Ansicht, die Punkte und Geraden seiner Elemente seien tatsächlich die Punkte und Geraden der wirklichen Welt. Indem er es unterließ, für die Ausmerzung aller Assoziationen zu sorgen, forderte Euklid seine Leser auf, ihrem Assoziationsvermögen freien Lauf zu lassen ...
Das sieht beinahe nach Anarchie aus und ist gegenüber Euklid nicht ganz fair. Tatsächlich legte er Axiome oder Postulate fest, die beim Beweis der Sätze gebraucht werden sollten. Eigentlich sollten keine anderen als diese Axiome und Postulate benutzt werden. Hier aber unterlief ihm ein Schnitzer, denn eine unvermeidlicheKonsequenz seines Gebrauchs von gängigen Wörtern war die, daß gewisse von den durch diese Wörter heraufbeschworenen Bilder sich in die von ihm konstruierten Beweise einschlichen. Wenn man jedoch in den Elementen Beweise liest, sollte man keineswegs krasse „Sprünge“ in den Folgerungen erwarten. Sie sind im Gegenteil sehr subtil, denn Euklid war ein tiefschürfender Denker und machte keine solch einfältige Fehler. Dennoch gibt es hier Lücken, die in diesem klassischen Werk leichte Mängel verursachen. Zu klagen braucht man deswegen jedoch nicht. Man sollte einfach den Unterschied zwischen absoluter Strenge und relativer Strenge verstehen lernen. Auf lange Sicht gesehen war Euklids Mangel an absoluter Genauigkeit noch über zweitausend Jahre, nachdem er sein Buch geschrieben hatte, die Ursache einer der fruchtbarsten Vorstöße in der Mathematik.
Euklid legte fünf Postulate als „Fundamente“ des unendlichen Wolkenkratzers der Geometrie vor, von denen die Elemente nur die ersten paar hundert Stockwerke darstellen. Die ersten vier Postulate sind recht knapp und elegant:
1)
Man kann von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen.
2)
Eine begrenzte gerade Linie kann endlos in gerader Linie verlängert werden.
3)
Man kann mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen.
4)
Alle rechten Winkel sind einander gleich.
Das fünfte Postulat jedoch teilt ihre Eleganz nicht:
5)
Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß immer auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei rechte werden, dann treffen sich die zwei geraden Linien bei Verlängerung im Unendlichen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei rechte sind.
Wenn er es auch nie aussprach, betrachtete Euklid dieses Postulat als den anderen irgendwie unterlegen, da er es fertigbrachte, beim Beweis der ersten achtundzwanzig Sätze nicht darauf zurückzugreifen. So gehören also die ersten achtundzwanzig Sätze zu etwas, was man als „Vier-Postulat-Geometrie“ bezeichnen könnte, zu jenem Teil der Geometrie, der sich auf der Grundlage der ersten vier Postulate der Elemente ohne die Hilfe des fünften Postulats ableiten läßt. (Man spricht auch oft von absoluter Geometrie.) Gewiß
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