Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Welt beziehen, überschneiden. Das gilt aber nicht für die verschiedenen Geometrien, z. B. beträgt die Winkelsumme eines Dreiecks nur in der euklidischen Geometrie 180 Grad, in der elliptischen Geometrie ist sie größer, in der hyperbolischen kleiner. Es wird überliefert, daß Gauß einmal versuchte, die Winkelsumme eines großen, durch drei Berggipfel definierten Dreiecks zu messen, um ein für alle Mal festzustellen, welche Art von Geometrie tatsächlich in unserem Weltall herrscht. Hundert Jahre später legte Einstein eine Theorie (allgemeine Relativität) vor, die besagte, daß die Geometrie des Weltalls durch den Materiegehalt bestimmt ist, sodaß also keine bestimmte Geometrie zum Raum gehört. So gibt also die Natur auf die Frage „Welche Geometrie ist wahr?“ eine doppeldeutige Antwort, nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Physik. Was die entsprechende Frage „Welche Zahlentheorie ist wahr?“ betrifft, so werden wir mehr darüber zu sagen haben, nachdem wir Gödels Satz im einzelnen untersucht haben.
Vollständigkeit
Wenn Widerspruchsfreiheit die minimale Bedingung ist, unter der Symbole passive Bedeutung annehmen, dann ist ihr Komplement, der Begriff der Vollständigkeit, die stärkstmögliche Bestätigung dieser passiven Bedeutungen. Wenn Widerspruchsfreiheit die Eigenschaft ist, daß „alles von dem System Hervorgebrachte wahr ist“, dann steht es mit der Vollständigkeit umgekehrt: „Jede wahre Aussage wird von dem System hervorgebracht“. Um diesen Begriff etwas schärfer zu fassen: wir können damit nicht jede wahre Aussage in der Welt meinen, sondern nur diejenigen, die dem Bereich angehören, den wir in dem System zu repräsentieren trachten. Deshalb bedeutet Vollständigkeit: „Jede wahre Aussage, die in der Notation des Systems ausgedrückt werden kann, ist ein S ATZ .“
Widerspruchsfreiheit: wenn jeder S ATZ , interpretiert, sich (in irgendeiner vorstellbaren Welt) als wahr erweist.
Vollständigkeit: wenn alle Aussagen, die in einer vorstellbaren Welt wahr sind und die als wohlgeformte Ketten des Systems ausgedrückt werden können, S ÄTZE sind.
Ein Beispiel für ein formales System, das auf seiner eigenen bescheidenen Ebene vollständig ist, ist das ursprüngliche pg-System mit seiner ursprünglichen Interpretation. Alle richtigen Additionen zweier positiver ganzer Zahlen werden durch die S ÄTZE des Systems repräsentiert. Wir könnten das noch anders ausdrücken: „Alle richtigen Additionen zweier positiver ganzer Zahlen sind innerhalb des Systems beweisbar.“ (Warnung: wenn wir beginnen, den Ausdruck „beweisbare Aussagen“ anstatt „S ÄTZE “ zu gebrauchen, so zeigt das an, daß wir den Unterschied zwischen formalen Systemen und ihrer Interpretation zu verwischen beginnen. Das ist in Ordnung, vorausgesetzt daß wir uns den Tatsachen wohl bewußt sind, daß eine solche Verwischung stattfindet, und vorausgesetzt, wir erinnern uns an die Möglichkeit von Mehrfach-Interpretationen). Das pg-System mit seiner ursprünglichen Interpretation ist vollständig; es ist auch widerspruchsfrei, da keine falsche Aussage innerhalb des Systems — um unseren neuen Ausdruck zu verwenden — beweisbar ist.
Man könnte einwerfen, das System sei unvollständig, da Additionen von drei positiven ganzen Zahlen (wie etwa 2+3+4=9) nicht durch S ÄTZE des pg-Systems repräsentiert werden können, obgleich sie sich in die Notierung des Systems übersetzen lassen (z. B. −−p−−−p−−−−g−−−−−−−−− ). Diese Kette ist jedoch nicht wohlgeformt und wäre deshalb als so bedeutungsleer wie pgp−−−gpg aufzufassen. Additionen mit drei Summanden sind ganz einfach in der Notation des Systems nicht ausdrückbar — somit bleibt die Vollständigkeit des Systems bewahrt.
Trotz der Vollständigkeit des so interpretierten pg-Systems kann es sicher den vollen Begriff der Wahrheit in der Zahlentheorie bei weitem nicht in seiner Gesamtheit einfangen. Zum Beispiel kann das pg-System uns nicht sagen, wie viele Primzahlen es gibt. Gödels Unvollständigkeitssatz sagt aus, daß jedes „hinreichend mächtige“ System kraft seiner Mächtigkeit in dem Sinn unvollständig ist, daß es wohlgeformte Ketten gibt, die wahre zahlentheoretische Aussagen, aber keine S ÄTZE sind. (Es gibt der Zahlentheorie zugehörige Wahrheiten, die innerhalb des Systems nicht beweisbar sind.) Systeme wie das pg-System, die vollständig aber nicht sehr stark sind, sind eher einem
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