Göring: Eine Karriere (German Edition)
Erpressermethoden wie im Falle Österreichs zu lösen. Er wollte den »Blinddarm Europas«, die Tschechoslowakei, gewaltlos »zerschneiden und unter Polen, Ungarn und Deutschland« verteilen. Der »Griff nach Prag« befürchtete er, könne die Westmächte auf den Plan rufen und einen Weltkrieg provozieren.
Doch sein Plan ging nicht auf. Diesmal bestimmte Hitler das Tempo. Göring sah sich in die Rolle des Zuschauers versetzt. Ende Mai 1938 befahl Hitler Göring und die Spitzen der Wehrmacht zu einer erneuten Geheimkonferenz in die Reichskanzlei. Vor deren Beginn nahm er Göring beiseite und erklärte ihm, dass er zum Angriff entschlossen sei – eine rein politische Lösung halte er nicht mehr für möglich. Göring brachte vorsichtig Bedenken vor: Der Westwall, die Grenzbefestigung an der französischen Grenze, sei erst im Rohbau. Wäre es nicht besser, das Reich hochzurüsten, um die Gefahr eines Angriffs auf Deutschland zu verringern? Hitler schlug die Einwände seines Paladins in den Wind. »Weiter gehende Entschlüsse können nur alleine gefasst werden«, erklärte er in der anschließenden Konferenz indirekt an Görings Adresse. »Es ist mein unerschütterlicher Wille, dass die Tschechoslowakei von der Landkarte verschwindet.« Er wollte angreifen. Frieden war für ihn nur noch ein Vor-Krieg. Göring schwieg. Nie brachte er den Mut auf, seine kontroversen Ansichten vor Hitler von Angesicht zu Angesicht mit Nachdruck zu vertreten. Seinem »Führer« gegenüber verhielt sich der kraftmeierische Kämpe unterwürfig und unwürdig devot. Görings Dilemma hieß Hitler. Ihm konnte er nicht entkommen. Er war, beobachtete Botschafter François-Poncet, »empfindlich und schnell verletzt. Dann zog er sich in sein Zelt zurück wie Achill. Aber Hitler hielt ihn zurück, schlug ihm auf die Schulter und sagte: ›Mein guter Göring!‹ Und Göring wurde rot vor Freude, und alles war vergessen.«
Göring ging auf Distanz zu Hitlers Kriegskurs, blieb aber peinlich darauf bedacht, nicht entschieden zu widersprechen. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass hartnäckige Gegenargumente Hitler in seinen Absichten noch mehr bestärkten. Statt zu opponieren, bemühte sich Göring um Alternativen, die den »großen Krieg« verhindern konnten. Er signalisierte London und Paris Verhandlungsbereitschaft und suchte mit Lockungen und Drohungen die Westmächte zum Stillhalten zu bewegen. Göring war zwar keine Taube, aber im Vergleich zu Hitler ein eher kleiner Falke, der dem fixen Ideal einer deutsch-britischen Herrschaft über Europa anhing. Sein vorsichtiger Kurs führte zu einer wachsenden Entfremdung zwischen ihm und Hitler. Als Ratgeber zog Hitler an seiner statt nun zunehmend den neuen, willfährigen Außenminister Joachim von Ribbentrop heran. Er wollte nichts mehr von den Friedensschwüren wissen, mit denen Göring bei Jagdgesellschaften in der Schorfheide britische Diplomaten einlullte. Keineswegs gewillt, eine günstige Konstellation geduldig abzuwarten, ermutigte Hitler die Sudetendeutschen zu immer weiter gehenden Forderungen an die Prager Regierung und betonte seine Unterstützung mit drohenden Manövern an der Grenze. Die Wehrmacht erhielt Anweisung, sich für den 1. Oktober 1938 in Bereitschaft zu setzen. Es roch nach Krieg. Fieberhaft und mit wachsendem Pessimismus suchte Göring nach einem Ausweg.
Wenn England mit Deutschland Krieg machen will, ist eines ganz sicher: Bevor der Krieg vorbei ist, werden nur noch wenige Tschechen am Leben und von London wird nur noch wenig übrig geblieben sein. Aber es besteht kein Anlass zu Besorgnissen, es sei denn, irgendetwas Katastrophales geschieht.
Göring zu Henderson, 17. September 1938
»Kein Anlass zu Besorgnissen«: Göring und Sir Neville Henderson am Rande des Nürnberger Parteitags 1938
Am Rande des Nürnberger Parteitags im September 1938 versprach der »Reichsjägermeister« dem britischen Botschafter Sir Neville Henderson die vier besten deutschen Hirsche, falls England nicht länger seine schützende Hand über Prag halte. Mehrmals drängte Göring den Diplomaten, Hitler und Premierminister Neville Chamberlain müssten sich zu einem Gespräch unter vier Augen treffen. Obwohl Chamberlain, um Frieden bemüht, Görings Wunsch beherzigte und Hitler am 15. September auf dem Obersalzberg besuchte, verschärfte sich die Lage weiter. Ultimativ forderte Hitler die sofortige Herausgabe der sudetendeutschen Gebiete. Damit schien die britische Politik des
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