Gößling, Andreas
Traum erwacht ist – schien es ihm, als ob er an diese Blume geklammert zur Erde niedergeschwebt wäre.
48
»Du hast wie ein Stein geschlafen, Marian.« Der Bruder Türsteher stand tief über ihn gebeugt. Sein Blick aus wässrig blauen Augen wirkte eher misstrauisch als be sorgt. »Ich habe dich gerufen und gerüttelt, aber du hast überhaupt nicht reagiert.«
Marian kämpfte sich aus dem tiefen schwarzen Sessel hervor. »Sorry«, murmelte er. »Kommt nicht wieder vor.« Er stand auf, und Torgas blieb nichts anderes übrig, als ihm den Weg freizugeben.
Draußen dämmerte schon wieder der Abend. Wie spät ist es, wollte Marian den Türsteher fragen, der ihm auf den Fersen folgte. Im gleichen Augenblick begann die Stundenglocke vom Kirchplatz her zu schlagen. Stumm zählte er mit – tatsächlich schon wieder acht Uhr. Also musste er fünf Stunden lang dort drüben gewesen sein – in Julians Welt, im Hexenwald. Dabei war es ihm wie ein kurzer, furchtbarer Albtraum vorgekommen.
Doch es war alles andere als ein bloßer Traum gewesen. Das Talmibro in seiner Linken fühlte sich schmierig a n – wie mit Schlamm verklebt. Rasch schob er es in seine Hosentasche.
Es ist vorbei, dachte er, während er auf die Tür zuging. Eine tiefe Niedergeschlagenheit erfasste ihn. Ich hab alles falsch gemacht. Niemand auf der Welt kann jetzt noch verhindern, dass die Golems am 9.9. zu sich kommen und diese Erde in einen Ort der ungeheuerlichsten Schrecken verwandeln werden.
Die Gänge zwischen den Bücherregalen waren voller Schatten. Marian achtete darauf, sich möglichst auf der Fensterseite zu halten. Auf einmal graute es ihn vor all den Monstern, Geistern, dunklen Zauberkräften, die in diesen Abertausenden uralter Schwarten lauern mochten.
Auch Marthelm hat sich getäuscht, dachte er. Ich bin nicht der Retter, von dem es hieß, dass er die Katastrophe im letzten Augenblick noch abwenden könnte. Ich hab einfach nur zugesehen, wie das Unglück in Gang gekommen ist – und jetzt ist die letzte Chance verpatzt.
Hinter ihm räusperte sich Torgas. »Unser Meister würde sich freuen, wenn du noch einmal bei ihm vorbeischauen könntest. Bei der gewissen Pforte, du weißt schon.«
Ohne stehen zu bleiben, drehte sich Marian zu dem al ten Logenbruder um. »Tut mir leid, meine Mutter wartet«, sagte er.
Torgas’ Gesicht war ein Ozean aus Falten und Furchen – darüber die dünnen weißen Haare wie Gischt, die auf den Wellen tanzte. Während ihm dieser sonderbare Vergleich durch den Kopf ging, kam ihm eine noch sehr viel seltsamere Idee.
»Es dauert nur einen Moment.«
Aber Marian schüttelte den Kopf und lief die ächzen den Holzstufen hinunter, so rasch, dass Torgas Mühe hat te, ihm zu folgen. Er wusste ja ganz genau, was Godobert von ihm erwartete – dass er einen neuen Versuch startete, das Sphärenfenster ein für allemal zu verschließen.
Aber nicht mit mir, jedenfalls nicht jetzt. Vielleicht müsste er selbst noch durch diese Pforte gehen – und diesmal in voller Konsequenz. Zumindest war das die ungeheuerliche Idee, die Marian eben durch den Kopf geschossen war: Wenn er durch das dunkle Glas hindurchginge, könnte er noch einmal in die Zeit vor der Erschaffung der Golems zurückkehren. Und diesmal würde er seine Sache besser machen – falls er dort drüben, auf der anderen Seite der Scheibe, nicht in die Irre ging und in eine ganz andere Welt oder Zeit abzweigte.
Doch wenn er auch nur ganz flüchtig daran dachte, wie kalt es dort hinter der Scheibe gewesen war, wurde ihm fast schlecht vor Angst. Wie all diese Geister in ih ren Tunneln und Löchern geheult und gewinselt hatten. Wie sie ihm den Kopf zum Platzen mit ihrem Brausen und Tosen gefüllt hatten. Wie für alle Zeiten verloren man war, wenn man da drüben in die Irre ging. Und doch war es allem Anschein nach seine allerletzte Chance.
An der Haustür wartete er ungeduldig, bis Torgas ihm aufgeschlossen hatte. »Richten Sie Meister Godobert aus«, bat er den alten Mann, »dass ich morgen wieder herkomme. Dann kann er mit mir reden.«
Der Bruder Türsteher nickte fast unmerklich, sein Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. Er schien nicht einverstanden mit Marians Entscheidung, aber er versuchte nicht noch einmal, ihn umzustimmen.
Gerade als Marian auf die Straße hinaustrat, meldete sich sein Handy. Er fischte es aus der Gürteltasche, nickte Torgas zum Abschied zu und schielte zur gleichen Zeit aufs Display – Linda.
Zum Glück nicht Billa.
Er
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