Gößling, Andreas
Marian rappelte sich auf und rannte hinter Billa her. Wir wollten Sylvenia für uns einspannen, dachte er, um mit ihrer Hexenkraft die Golems in das Auge unter dem Drachenmaul zu rammen. Aber in Wirklichkeit war es genau umgekehrt: Das He xenbiest hat uns benutzt, um in den Bannwald reinzukommen. Die ganze Zeit über hat es in der armen Billa auf der Lau er gelegen und nur darauf gewartet, dass wir ihr hier am Ziel die Amulette runterpflücken würden. Wie blöd wir doch waren. Und jetzt ist alles aus und vorbei!
Marian war so durcheinander, dass er um ein Haar gleichfalls nach draußen gerannt wäre. Doch im letzten Moment kam er zur Besinnung. Hinter einem Steintrümmer, der wie ein riesiger Reißzahn im Eingang zur Tempelruine aufragte, ging er in Deckung. Ihm selbst konnten die Hexen wohl nicht viel anhaben, solange er das Schutztuch und den Pentagramm-Anhänger trug. Aber wenn sie ihn entdeckten, würden sie ihn durch ei nen Blendzauber oder sonst einen Hexentrick in die Irre führen, und dann könnte er für Billa überhaupt nichts mehr tun.
Er spähte hinter der Steinsäule hervor und vergaß fast zu atmen. Über den Köpfen der Golems hatten die Hexen einen kreisrunden Luftwirbel gebildet. Es sah aus wie ein rasend rotierender Riesenpropeller, der von einem Ring aus tanzenden Blättern, Fledermäusen, Fuchsmäulern, glühenden Augenpaaren umschlossen wurde. Ein helles, jaulendes Heulen ging von diesem »Eulenschlund« aus, und wie ein gigantischer Staubsauger riss er alles in sich hinein, was sich unter ihm auf dem Platz vor dem Drachenmaul befand. Äste, Steine, Efeu, Rankwerk – alles wurde in dieses Luftmaul hineingesogen. »Schlürft stärker, Schwestern!«, kreischte Barixa.
Das Jaulen schwoll zu einem Gellen an, so schrill, dass es Marian fast die Trommelfelle zerriss. Auch Billa, die wie angewachsen vor der Tempelruine stand, presste sich die Fäuste auf die Ohren. Aber das half überhaupt nichts – das Brüllen war überall, und es wurde mit jedem Augenblick noch lauter, der Sog stärker.
Längst waren die armdicken Schlingranken von den Golems heruntergerissen worden. Anscheinend versuchten die Hexen, die Golems in ihre Geisterwelt hinüberzureißen – gerade noch rechtzeitig, bevor die Riesen aus dem Zauberschlaf erwachten. Denn dann würden sie sich von niemanden außer ihrem Schöpfer mehr dirigieren lassen. Tatsächlich begannen sich die liegenden Kolosse zu erheben, angezogen vom übernatürlichen Sog des Eulenschlundes. Mit den Köpfen voran stiegen die Go lems empor, alle sechs zur gleichen Zeit, richteten sich wie gigantische Steinzeitraketen auf das Luftmaul aus. Der Hexenhügel dröhnte und bebte unter ihrem Tonnengewicht. Schon standen sie allesamt aufrecht, schwebten im nächsten Moment bereits eine Handbreit über dem Boden. Doch nur einen holprigen Herzschlag später explodierte der Eulenschlund über ihnen in hunderttausend Fetzen.
Augenblicklich erstarb das Heulen, der Sog erlosch. Vogelfedern, Stücke von Fuchs- und Rattenfell rieselten hernieder. Die Golems sackten zurück auf den Boden, krachten dröhnend und donnernd übereinander. Meisterin Barixa und alle anderen Hexen schrien und kreischten ihre Wut und Enttäuschung aus sich heraus. Da aber wa ren sie bereits aus dem Kreis herausgerissen worden und jagten jede für sich in wildem Wirbel, in trudelndem Flug zu den Wipfeln hinauf.
Von seinem Versteck aus starrte ihnen Marian hinterher. Noch immer war er wie gelähmt vor Aufregung und Angst. Zumindest hatte Barixa die Golems nicht in ihren Besitz gebracht, dachte er – die Hexenmeisterin hätte mit diesen Ungeheuern bestimmt nicht weniger Unheil angerichtet als Meister Justus.
Aber wo war Billa? Marian rannte hinter der Steinsäu le hervor, sah sich panisch nach allen Seiten um. »Bil la?«, schrie er. »Wo bist du?«
»Hier!«, rief sie so gepresst, als ob irgendwer sie im Würgegriff hielte. »Hilf mir – schnell!«
Kopfüber schwebte sie über dem Steinklotz, wo sie vorhin ihre Amulette abgezogen hatte. Anscheinend hatte sie versucht, das Medaillon oder einen anderen Schutzzauber wieder anzulegen, um das Hexenbiest in ihrem Innern zu schwächen. Aber selbst aus der Ferne besaß Sylvenia offenbar noch zu viel Gewalt über sie – Billa hing mit den Füßen voran in der Luft, streckte mit aller Kraft ihren Arm nach unten, doch sie schaffte es nicht, sich eins der Amulette aus dem Laubhaufen vor der Steinbank zu angeln.
Während Marian auf sie zugestürzt kam,
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