Gößling, Andreas
Händen würgte die »Moorlissa« ihr Opfer und zog es gleichzeitig zu sich hinab.
Herrje, Billa, dachte er. Was soll das alles hier?
Mittlerweile war die Wolkendecke aufgerissen und der Mond goss sein Silberlicht über das Durcheinander auf diesem Hof. Vorsichtig, um nicht in Scherben oder sonst etwas Spitzes zu treten, stakste Marian barfuß zum Ziehbrunnen. Der schien tatsächlich noch in Betrieb zu sein: An einer Kette hing ein rostiger Eimer, der sich mit ei nem noch viel stärker verrosteten Eisenrad in die Tiefe kur beln ließ. Es machte einen schrecklichen Lärm, mindestens wie das Geheul von sieben Moorleichen auf einmal. Aber besser das hier, sagte sich Marian, als das Knarren und Tosen im Hexenholz zu hören – oder gar die keifenden Stimmen der alten Weiber da drinnen.
Er kurbelte den Eimer wieder hoch – immerhin zur Hälfte mit einer trüben Brühe gefüllt. Er goss sich davon über seinen linken Fuß und versuchte, sich mit bloßen Händen den Moorschlamm runterzuschrubben.
Billa schien fest daran zu glauben, dass Jakob noch lebte – anders war ihr Benehmen wirklich nicht zu erklären. Und nicht nur das, sie war offenbar auch davon überzeugt, dass diese drei Waldfrauen wussten, wo sich ihr Bruder befand. Anscheinend hoffte sie, dass Klotha, Birta und Sina ihr verraten würden, wo Jakob war. Und vielleicht würden sie ihr sogar helfen, ihn freizukriegen, wenn sie sich von den drei Weibern nur genügend knechten ließ, ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablas, sich für sie abschuftete und dafür auch noch die übelsten Beschimpfungen einsteckte.
Aber das ist doch völlig verrückt, dachte er und hörte auf, sich abzuschrubben. Das Wasser aus dem Brunnen schien fast genauso schlammig zu sein wie der Schmier auf seiner Haut. Jedenfalls wurde er durch das Waschen nur nasser statt sauberer.
Plötzlich ein Wispern hinter ihm. »Was machst du denn da?«
Er fuhr herum, kickte dabei gegen den Eiseneimer, der mit dröhnendem Scheppern gegen den Brunnen knallte.
»Psst«, flüsterte Billa, »weck sie nur nicht wieder auf. Ich bin heilfroh, dass sie alle drei endlich Ruhe geben.«
»Warum …«, begann er, aber sie legte ihm ihre Hand auf die Lippen.
»Psst, Marian«, machte sie wieder. Im Mondschein waren ihre Augen silberfeuerblau. »Jeden Sommer, wenn ich in den Ferien herkomme, ist es noch schlimmer mit ihnen geworden«, flüsterte sie und nahm ihre Hand wieder weg von seinem Mund. Stattdessen legte sie ihm die Arme um die Mitte und zog ihn eng an sich heran. Dabei flüsterte sie in einem fort weiter, ihr Mund so nah, dass ihr Atem über seine linke Wange fuhr.
Birta sah damals noch nicht im Entferntesten so irre aus wie heute, wisperte Billa. Klotha war natürlich auch da schon reichlich alt, und ihr Hof hätte ein paar Repara turen gut gebrauchen können. Die meisten Cropliner Bür ger nannten sie auch vor Jahren schon »die drei alten Hexen« – und trotzdem war es überhaupt kein Vergleich zu heute. Man konnte mit ihnen noch halbwegs normal reden, sagte Billa, sogar mit Klotha. Sina sah man sogar noch an, dass sie mal eine ziemlich hübsche Frau gewesen sein musste. Die drei gaben sich auch Mühe, ihren Hof einigermaßen in Schuss zu halten. Erst ein paar Jahre vorher hatten sie ja dieses Holzhäuschen bauen lassen, damit Touristen wie Billas Familie ihre Sommerferien bei ihnen verbringen würden. Und natürlich hätten Billas und Jakobs Eltern niemals mit ihren Kindern auf Klothas Hof Urlaub gemacht, wenn es da schon so zugegangen wäre wie heutzutage.
Sie verstummte so plötzlich, wie das Gewisper angefangen hatte, aus ihr hervorzuströmen. Es hatte fast wie eine Beichte geklungen, nur verstand Marian nicht so recht, warum sie ihm all das erzählte. Und weshalb ausgerechnet jetzt, während sie ihn im Mondschein umarmte.
»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Ihre Stimme klang auf einmal wieder ganz anders. Lieb und Erwartungsvoll. Tief schaute sie ihm in die Augen. »Willst du mich nicht endlich küssen?«
Oh doch, das wollte er. Marian hatte sogar an nichts anderes mehr gedacht, seit sie ihre kleine kühle Hand auf seinen Mund gelegt hatte.
Er schlang seine Arme um sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Für einen langen Augenblick reinen Glücks vergaßen sie den ganzen Wahnsinn, in dem sie wie in einem unentrinnbaren Schlammloch steckten – das Geheule vom Moor her, das Ächzen im Hexenholz, den schrecklichen Golem-Fluch. Marian hatte schon ein paarmal ein Mädchen
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