Gößling, Andreas
nebeneinander, einer blutrot, der andere giftig gelb. Die Tropfen wurden größer und größer, klebten zitternd unter der Decke, so als ob sie im nächsten Moment zu Boden fallen würden. Zugleich wurde das Fauchen und Heulen lauter und lauter.
Noch immer schrie der Großmächtige Meister jene be schwörenden Silben – doch zu verstehen war nichts mehr. Die Tropfen schwollen an, wuchsen in die Breite und weit mehr noch in die Länge – wie Zungen, die von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen wurden. Je größer sie wurden, desto leuchtender ihre Farbe – blendend gelb wie Sonnenlicht, wie geschmolzenes Gold, brennend rot wie Feuer, wie kochendes Blut. Ihre Enden waren gespalten wie bei Schlangenzungen und zugleich spitz wie Speere. Zitternd schwangen sie über dem Pfortenglas hin und her.
Mit offenen Mündern glotzten der Goldschmied Bardo und Ritter Gunter zur Decke empor. Benno hob die Hände, wie um sich die Ohren zuzuhalten, doch auf halbem Weg erstarrte er in einer Gebärde ratlosen Entsetzens. Und genau in diesem Augenblick schnellten die Lichtzungen pfeilschnell hernieder und bohrten sich in das Pfortenglas.
Es schepperte und klirrte. Fiebrig bunte Fontänen aus Funken, Flammen, Dämpfen schossen empor und erfüllten das Verlies. Ob dieses Tohuwabohu noch zur Beschwörung gehörte oder im Gegenteil deren Scheitern anzeigte, hätte wohl allenfalls Meister Justus zu sagen vermocht. Doch da begann der Golem mit einem Mal an Rumpf und Gliedern zu zucken.
Gebannt starrte Julian ihn an. Der Golem schien vollkommen verwandelt. Eben noch war er bloß eine Lehmpuppe von ungefähr menschlichen Umrissen gewesen –jetzt aber glich er aufs Haar einem kräftigen jungen Mann. Schlammverschmiert lag er dort am Boden, nicht viel größer als ein zehnjähriger Knabe, doch vor Muskeln starrend. Sein Gesicht konnte der Famulus nicht erkennen – es war ja vollständig durch das Pfortenglas, die Lichttropfen, die Dämpfe und Flammen verdeckt. Aber Julian sah ganz deutlich, wie der Golem ein Bein anwinkelte, den Rumpf emporstemmte und sich mit dem Ellbogen aufstützte, um sich vom Boden zu erheben.
In diesem Moment zerplatzte über ihm das Pfortenglas mit einem ohrenbetäubenden Knall. Das Pultgestell fiel donnernd um und zugleich ging der Golem von Kopf bis Fuß in Flammen auf. Schwefelgelbe und blutrote Feuerzungen schossen aus seinem Rumpf, aus Schädel und Gliedmaßen hervor.
Die Männer husteten und fluchten. »Holt Wasser –schnell!«, rief Meister Justus. »Löscht das Feuer, noch ist nicht alles verloren!«
Doch das Eisengestell war zur Seite hin umgestürzt und blockierte die Tür. Bis sich die drei Lichtträger den Weg freigeräumt hatten, war der Famulus geisterschnell den Gang zurück- und die Treppe wieder hinaufgejagt. Ihm war übel vor Aufregung und wohl auch von den dämonischen Dämpfen. Jedenfalls musste Julian seine allerletzte Kraft aufwenden, um sich oben aus dem Kellerfenster und hinaus auf den Hinterhof zu schlängeln. Dort hätte er beinahe seine Schuhe vergessen – er musste noch einmal zurück und hätte deshalb vor Wut und Aufregung beinahe losgeheult.
Am Himmel glitzerten bereits die Sterne. Bleich schwebte die Mondsichel über dem Hexenholz. Mit fliegenden Fingern klaubte Julian seine Schuhe auf und rannte wieder um das Haus herum nach vorn. Dort aber prallte er förmlich zurück: Die eisenbeschlagene Vordertür stand weit offen und eben trat der Goldschmied Bardo heraus. Sein Bruder Benno folgte ihm auf dem Fuß.
»Er kann noch nicht weit sein«, sagte Bardo. »Als ich unten aus der Tür bin, ist er gerade die Treppe hochgerannt. So ein schmales Bürschchen – kommt mir von irgendwoher bekannt vor.« Er ging mit raschen Schritten zum Tor vor und schaute links und rechts auf die Straße. »Nichts.« Im Laufschritt kam er zum Haus zurück und Julian hinter der Mauerecke wäre beinahe tot umgefallen vor Angst.
Was sollte er jetzt nur machen? Wenn ihn der Meister und seine Lichtträger in die Hände bekamen, war es aus und vorbei mit ihm. Er hatte sie bei einer verbotenen Be schwörung beobachtet, für die sie höchstwahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen landen würden, wenn der moorgräfliche Inquisitor jemals davon erfahren würde.
»Also, wenn du mich fragst, Bardo«, sagte Benno mit pfeifender Stimme, »der Kerl muss noch im Haus sein – oder allenfalls hier draußen im Gelände.«
Bardo strich sich nachdenklich über das Kinn. »Der Meister hat befohlen, ihm den Burschen zu
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