Gößling, Andreas
ihr so etwas je zuvor gesehen?«
Er ging zur Seite und die drei Lichtträger taten es ihm einer nach dem anderen gleich. Sie nickten andächtig oder schüttelten fassungslos den Kopf. »Kein Magier ist mächtiger als Ihr, Meister«, brummte Gunter von Croplinsthal.
Was zum Teufel bekamen sie denn da so Wunderbares zu sehen? Vor lauter Neugierde vergaß Julian fast schon wieder, dass sein Seelenheil auf dem Spiel stand. Immer wenn ein Logenbruder zur Seite trat und für den nächsten Platz machte, konnte auch er einen raschen Blick auf das »Pfortenglas« werfen – aber es ging jedes Mal so schnell, dass kaum etwas zu erkennen war.
»Bardo, Benno – die Schalen«, befahl schließlich Meister Justus.
Die beiden Brüder traten zur Seite, um seinen Befehl auszuführen. Auch der Meister selbst und Ritter Gunter, der Oberste Lichtträger in der Loge, machten sich weiter hinten zu schaffen – nun endlich hatte Julian freien Blick auf das Pfortenglas.
Was er zu sehen bekam, verschlug ihm fast den Atem. Unter dem fingerdicken Glas lag der Golem wie am Grund eines tiefen, dunklen Sees. Sein Gesicht war der »Pforte« zugewandt, und der Famulus hätte schwören können, dass sein Ausdruck sich verändert hatte. Es sah nun entschieden erwartungsvoll aus. So als ob der Golem in seinem tiefen Schlaf bereits spürte, dass er gleich geweckt werden sollte.
Aber das allein war es nicht, was Julian so sehr in Bann zog. Im Innern des Pfortenglases befanden sich allem Anschein nach zwei höchst sonderbare Kreaturen. Eingeschlossen wie urzeitliche Insekten in einem Bernsteintropfen – doch je länger Julian hinsah, desto sicherer war er, dass diese Wesen lebten. Sie bewegten sich in der gläsernen Scheibe hin und her wie Fische in einem Aquarium. Welche Form sie besaßen, hätte man unmöglich sagen können, denn mit jeder Bewegung veränderten sie sich vollständig. Mal ähnelten sie einer Vogelfeder, dann wieder einer Schlange, die sich mit Wellenbewegungen voranschlängelte. Eine dieser Kreaturen war tiefschwarz, doch zugleich ging ein rotes Leuchten von ihr aus, als ob sie innerlich glühte. Die andere schillerte in unterschiedlichen Gelbtönen – schwefel-, honig-, sonnengelb.
»Unter allergrößten Mühen und Gefahren«, sagte Meister Justus, »ist es mir gelungen, diese Geister in das Pfortenglas zu spiegeln. Mit ihrem Licht werden wir den Golem erwecken. Lichtträger – die Gefäße!«
Die beiden Schmiede stellten jeder eine Kupferschale neben der Lehmfigur auf den Boden. Der Großmächtige Meister korrigierte ihre Position, bis er mit dem Ergebnis zufrieden schien. Nun standen die Schalen beiderseits neben dem Kopf des Golems, genau unter dem Pfortenglas.
»Lichtträger – zündet an!«, befahl Meister Justus.
Bardo und Benno Krummbiehl senkten jeder eine brennende Fackel in seine Kupferschale. Sogleich schossen armdicke Flammensäulen knisternd und fauchend aus den Gefäßen hervor – die eine schwefelgelb, die andere blutrot.
Die Flammen schlugen von unten gegen das Pfortenglas. Es knackte und prasselte, zischte und knirschte. Die drei Lichtträger wichen in den Hintergrund des engen Raums zurück. Der Großmächtige Meister dagegen begann wieder, den liegenden Golem zu umkreisen.
»Schem – ham – for – as!«, rief er mit feierlicher Betonung und stakste wie ein schwarzer Riesenvogel ein ums andere Mal im Kreis . »Schem – ham – for – as!«
Von seinem Späherposten aus hatte Julian freien Bl ick auf das Pfortenglas. Durch Ruß und Dampf war dessen Unterseite mittlerweile so verdunkelt und beschlagen, dass er von dem Gesicht des Golems nur noch ein paar nebelhafte Umrisse erblickte. Doch den Körper und die Gliedmaßen der Lehmfigur konnte er desto besser sehen, wenn nicht gerade der vorüberstampfende Meister ihm mit wehendem Umhang die Sicht versperrte. »Schem – ham – for – as!«
Alle starrten gebannt auf die Gestalt am Boden. Fauchend schossen die Flammensäulen zur Geisterpforte empor. Der Meister lief rufend im Kreis. Schon begann Julian zu glauben, dass auch diese Beschwörung misslingen würde – da wurde das Fauchen und Prasseln der Flammen mit einem Schlag tausendfach lauter und ein gespenstisches Heulen mischte sich hinzu.
»Schem – ham – for – as!« Der Meister schrie jetzt aus Leibeskräften und dabei richtete er seinen Blick zur Decke über dem Pfortenglas empor.
Es sah aus wie zwei dicke, zähe Tropfen, was dort oben aus dem Stein hervorquoll. Handbreit
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