Gößling, Andreas
alles von vornherein zwischen den beiden abgesprochen war. Dass Pedro drinnen im Haus nach den heiligen Sachen suchen sollte, während der Großvater sich draußen gründlich umsah. Davon musste doch Pedro nichts gewusst haben! Nein, davon hat er sogar ganz bestimmt nichts gewusst, dachte Carmen und wünschte sich nur, dass sie ihren eigenen Beschwörungen glauben könnte.
Natürlich musste es für den Großvater kinderleicht gewesen sein, das Versteck der Maske aufzuspüren. Schließlich hatte er einen Spürhund dabei, der wie besessen auf alles losging, was auch nur ganz schwach nach Pedros Vater roch. Wenn sie doch die Maske zumindest nicht mitsamt diesem schlammfarbenen Tuch verbuddelt hätte! Aber auch das hätte wahrscheinlich nichts genützt, dachte Carmen. Der Großvater hatte ja sein ganzes Leben im Wald verbracht. So ein erfahrener Spurensucher und Fährtenleser hätte bestimmt sogar ohne Yeeb-ek ihr Schatzversteck gefunden.
Wie naiv sie doch gewesen war. Carmen paddelte verbissen und starrte auf Pedros Rücken, der im Licht der Fackeln, im Takt der Ruder vor ihr hin und her schaukelte. Zu glauben, dass sie diese Leute überlisten könnte! Sie, die kleine, dumme Carmen! Alles hatte sie verpatzt! Mittlerweile musste ja auch Georg in heller Aufregung sein. Bestimmt wartete er auf ihren zweiten Anruf, den sie doch für heute angekündigt hatte. Aber anstatt mit ihrem Vater zu telefonieren und ihm zu erklären, was passiert war, ruderte sie wie eine Blöde über diesen unterirdischen Fluss. Fragte sich immer entsetzter, was sie hier überhaupt machte – ob sie wirklich unterwegs war, um Maria zu retten, oder ob sie nicht auch noch selbst entführt worden war. Ob Pedro wirklich auf ihrer Seite war oder ob sie nicht doch alle unter einer Decke steckten: der Großvater, die Zwillinge, er. Schluss jetzt!, befahl sich Carmen. An was anderes denken, bitte!
Sie paddelte und paddelte und stellte sich vor, wie das Land hier früher mal ausgesehen hatte. Das hatte Maria ihr mal erzählt – wo heute der Dschungel wucherte, gab es vor tausend oder zweitausend Jahren überall große und kleine Städte. Zwischen den Städten führten sogar breite Straßen durch Wälder und Felder. Aber auf diesen Alleen waren damals nur Fußgänger unterwegs. Die alten Maya-Kulturen kannten das Rad, doch nur Kinder spielten mit kleinen Kutschen und Wagen. Die Leute gingen zu Fuß, wie die Götter es ihnen vormachten. Selbst Könige und hohe Priester ließen sich höchstens mal in Sänften tragen. Feierliche Priesterprozessionen schritten auf den Prachtstraßen von Stadt zu Stadt. Handelskolonnen eilten durchs ganze Land, um Edelsteine und Keramik, Webstoffe, Waffen und Lebensmittel in allen Königreichen zu verkaufen. Dann wieder marschierten Soldaten auf diesen Wegen, die auch zur Regenzeit vor Überschwemmung sicher waren. Schon die alten Maya verwendeten nämlich eine Art Beton, mit dem sie ihre Straßen, Häuser, Plätze, schließlich das ganze Land überzogen.
Wie seltsam, dachte Carmen, dass mir das alles gerade jetzt wieder einfällt. Wenn Maria ihr davon erzählt hatte, war sie mit ihren Gedanken meistens woanders gewesen. Und doch hatte sie sich offenbar vieles davon gemerkt. Auf einmal sah sie ihre Mutter vor sich, die ihre Erklärungen mit ihren typischen Handbewegungen untermalte. »Tja, unsere heutige westliche Zivilisation hält sich für wer weiß wie modern und glaubt, alle Kulturen vor uns wären rück-ständig gewesen.« Maria hatte zum Fenster hin abgewunken, vor dem aber von der westlichen Zivilisation nur ein paar Münchner Vorstadthäuser zu sehen waren. »Dabei gab es schon in den Maya-Reichen Hochhäuser und andere riesige Gebäude – Paläste für hunderte von Bewohnern und Pyramiden, die hunderte Meter in den Himmel wuchsen.« Sie zeigte energisch zur Zimmerdecke. »Schon die Gelehrten dieser alten Königreiche verwendeten ein Schriftsystem, mit dem sie die kompliziertesten Gedanken aufschreiben konnten. Sie rechneten mit Millionenzahlen. Sie beobachteten die Sterne.
Und eine ihrer Erfindungen war sogar genauer als alles, was die abendländische Welt bis ins neunzehnte Jahrhundert zu Stande gebracht hat – ihr Kalender…«
Ihr Kalender. Grässlich hallte das Wort in Carmen nach. Lauter als das Klatschen der Ruder, das Keuchen aus vier Mündern und das Rauschen des Wassers dröhnte es in ihrem Kopf. Ihr Kalender, ihr Kalender. Jedes Mal stach es ihr wie mit einem Messer durch die Stirn. Ihr Kalender.
Weitere Kostenlose Bücher