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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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einen riesigen, kreisrunden See. In seiner Mitte, auf einer kleinen Insel, loderte ein gewaltiges Feuer, das vom grünen Wasser und von den kreideweißen Kraterwänden reflektiert wurde. Der Cenote von Tzapalil. Ach du lieber Himmel, dachte Carmen. Das wird ja immer irrwitziger! Treppen liefen geradewegs oder in Serpentinen an den senkrechten Wänden empor und zogen den Blick bis in schwindelnde Höhen hinauf. Und was war denn das dort oben? Am Rand des riesigen Kraters türmten und drängten sich Bauten von solcher Pracht und Größe, in solcher Menge und in so aberwitzigen Formen, dass sie wie hypnotisiert nach oben starrte.
    Carmen vergaß zu paddeln und zu atmen. Dort oben, zwanzig Meter oder mehr über dem grünen Spiegel des Cenote, drängten sich Pyramiden und Säulentempel, quaderförmige Paläste und himmelhohe Türme. Und alle diese Bauten waren leuchtend bunt bemalt, mit riesigen Gesichtern, gigantischen Tier-und Menschengestalten.
    Die Gesichter glotzten so finster wie überhaupt möglich auf sie herunter. Bestimmt waren es Götterköpfe, dachte Carmen, die immer weitere verrückte Einzelheiten entdeckte. Endlose Reliefs zogen sich an den Palastwänden entlang, ganze Riesengestalten waren aus den Fassaden gemeißelt - Raubkatzen im Sprung, gefiederte Schlangen, monströse Frösche mit geblähten Backen, ein riesiger Hase, der auf einer Mondsichel saß.
    Es kam ihr vor, als ob sie mitten durch ein Traumbild trieben.
    Oder über eine Theaterbühne oder durch ein vollkommen surreales Gemälde. Und doch klopfte ihr Herz so wild und zog sich ihr die Kehle immer enger zusammen, wie es nur passierte, wenn man in wirklicher, schrecklicher Gefahr war.
    Als sie wieder nach unten sah, machten die Zwillinge eben ihr Boot am Ufer fest.
    Auf dem schmalen Sims vor einer Treppe, die direkt über ihnen aufstieg, standen fünf Gestalten und schauten grimmig auf sie hinab.
    Das mussten die Jaguarpriester sein, dachte Carmen. Sie waren jung und muskulös und vollkommen nackt, abgesehen von einem winzigen Tuch um ihre Hüften. Das schwarze Haar fiel ihnen bis über die Schultern. Ihre Augen waren schräg geschnitten wie bei den Zwillingen. Ihre Wangenknochen und fliehenden Stirnen – in allem sahen sie wie Jaguare aus. In ihren Ohrläppchen steckten dicke Holzstäbe, an denen Borsten und Krallen hingen. Ihre Gesichter, Körper, Arme, Beine, jeder Zentimeter Haut war mit hellen und dunklen Flecken bemalt.
    Carmens Herz schlug jetzt so heftig, dass es wehtat. Sie konnte gar nicht mehr richtig denken. Wie gelähmt sah sie zu, als sich die Zwillinge vor ihnen im Boot genau gleichzeitig ihre Gewänder über die Köpfe zogen. Nein, dachte Carmen, bitte nein! Sie kniff die Augen zu und riss sie wieder auf. »Nein!«, flüsterte sie. Pedro drehte sich zu ihr um und zog ihr Gesicht an seine Brust. Aber es war zu spät, viel zu spät, denn sie hatte das Grässliche ja längst gesehen.
    »Nein«, flüsterte sie wieder und machte sich mit bleiernen Armen von Pedro los.
    Auch die Zwillinge waren jetzt nackt bis auf einen schmalen Schurz um ihre Lenden. Zwei der jungen Jaguarpriester beugten sich vor und streckten ihnen die Hände entgegen. Als Kanaas sich erhob, sah Carmen kurz die maisgelbe Maske aufblitzen, die an einem Lederriemen vor seiner Brust hing.
    Aber nicht wegen der Maske saß Carmen wie versteinert im Boot. Nicht deswegen hämmerte ihr Herz, als ob es gleich mit einem Knall zerspringen wollte. Auch nicht wegen der menschlichen Jaguare, die geschmeidig zu ihr und Pedro ins Boot sprangen, kaum dass die Zwillinge ausgestiegen waren.
    Ixoms Rücken, dachte sie. Und auch Kanaas’ Haut, vom Nacken abwärts, den ganzen Rücken runter. Die Jaguarpriester packten sie und Pedro und zerrten sie aus dem Boot. Carmen ließ es willenlos geschehen. Von den Zwillingen war schon nichts mehr zu sehen.
    Aber sie erblickte die beiden immer noch vor sich, ihre schmalen Rücken, die von oben bis unten mit Narben, Knoten, Wülsten überwuchert waren.
    Mit groben Händen trieben die Jaguarpriester Carmen und Pedro vor sich her. Die senkrechte Treppe hinauf, bis zu einem Felsloch in halber Höhe des Kraters. Genau in diesem Moment ging über dem Cenote von Tzapalil die Sonne auf. Und mit einem Schlag begriff Carmen, welchen Plan die Zwillinge verfolgten und welche Rolle sie und Pedro dabei spielen sollten. Wenn ihr für uns hinterm Altar hockt.
    Die Jaguare schubsten sie in das Felsloch hinein. Direkt hinter dem Eingang führte eine Holzleiter

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