Gößling, Andreas
Bestimmt war der Dienstag schon angebrochen – und am Mittwoch wollten diese Wahnsinnigen Maria umbringen, wenn sie bis dahin nicht ihre verdammten Götterschätze zurückbekommen hatten!
Sie paddelte und paddelte. Ihr Kalender, ihr Kalender. Sie bekam das Wort einfach nicht mehr aus ihrem Kopf heraus! Nichts, gar nichts hab ich in der Hand, um Maria zu retten, dachte Carmen.
Nichts von dem, was diese verrückten Priester zurückhaben wollen – nicht die silberne Sichel ihrer Mondgöttin, nicht die goldene Scheibe ihres Sonnengottes und nicht den Rüsselfrosch ihres Regengottes!
Und sogar ihren einzigen Trumpf, die Maske des Maisgottes, hatte sie verloren. Sie musste Kanaas anbetteln, dachte Carmen, ihm versprechen, was immer er haben wollte – wenn er ihr nur die verdammte Maske zurückgab!
Ihr Kalender, ihr Kalender. Sie paddelte und paddelte und die Angst in ihr wuchs und wuchs.
»Gleich sind wir in Tzapalil.« Kanaas hob eine Hand und sie alle hörten auf zu rudern. »Was ihr wissen müsst, erfahrt ihr jetzt. Also hört zu.« Der Jaguarjunge drehte sich halb zu ihnen herum und sah erst Pedro, dann Carmen an. »Dieser Kanal führt direkt zum großen Cenote von Tzapalil. Dort werden wir erwartet – von unseren Leuten.« Er warf Ixom, die zwischen ihm und Pedro hockte, einen raschen Blick zu. »Von den Jaguarpriestern.«
»Woher wissen die denn, dass wir kommen?« Carmen zog sich die Kehle zusammen. »Das ist doch eine Falle!« Sie rüttelte Pedros Schulter. »Eine Falle, Pedro, hörst du nicht? Wie können sie da in Tzapalil wissen, dass Ixom und Kanaas gerade heute zurückkommen?« Pedro sah sie nur wortlos an. »Pedro!«, rief Carmen. Ihre Rufe widerhallten von den Tunnelwänden. Ihr war immer noch schlecht vor Angst. Aber sie konnte sich doch nicht einfach wie ein Stück Schlachtvieh in ihr Schicksal ergeben! »Hast du gewusst, was sie vorhaben? He, sag doch was!«
»Was sie vorhaben?« Pedro machte große Augen.
»Mir die Maske wegnehmen. Mich auch hierher schaffen, damit sie noch höhere Forderungen stellen können. Hast du davon gewusst? Was haben sie dir dafür versprochen? Dass sie deinen Vater laufen lassen, wenn du ihnen hilfst mich hierher zu locken?«
Pedro sah plötzlich aus, als ob er gleich losheulen würde. »Aber… aber, Carmen«, stammelte er und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. »Aber wieso glaubst du denn, dass ich…« Er schüttelte traurig den Kopf und wollte gerade weitersprechen, als der Jaguarjunge dazwischenfauchte.
»Dafür habt ihr nachher Zeit genug. Wenn ihr für uns hinterm Altar hockt.« Kanaas sah Carmen an. »Ihr Weißen seid wirklich wie Blinde. Hast du allen Ernstes geglaubt, dass wir unbemerkt auf diesem Fluss nach Tzapalil fahren können? Sie beobachten uns seit Stunden. Wahrscheinlich schon, seit wir Yax-kech verlassen haben.«
Seine Augen zogen sich zu schrägen Schlitzen zusammen. Jetzt sah er vollkommen aus wie eine Raubkatze, die sich gleich auf ihre Beute stürzen würde. »Ihr steht unter dem Schutz der Jaguarpriester.
Macht nur alles, was sie sagen, dann wird die Sache schon gut ausgehen.«
Damit drehte er sich wieder nach vorn. Beide Zwillinge stießen ihre Paddel ins Wasser und schon jagten sie erneut über den Fluss.
Zögernd griff Carmen nach ihrem Ruder. Pedro sah sie immer noch ganz traurig an. Auf einmal wusste sie gar nicht mehr, was sie denken sollte. Oder glauben. Wem durfte sie denn trauen, wer war ihr Freund und wer ihr Feind? Sie hatte Pedro bestimmt Unrecht getan, das fühlte sie jetzt ganz genau. Und was war mit den Zwillingen?
Wenn ihr für uns hinterm Altar hockt. Was sollte das denn heißen?
Da hatte sie sich doch wohl verhört? Diese Worte ergaben doch überhaupt keinen Sinn. Vielleicht wollten die Zwillinge ihnen ja wirklich nur helfen. Schließlich hatte sie den beiden ja versprochen, dass sie den Drahtzieher dieser ganzen Schatzraubzüge unschädlich machen würde, wenn sie nur Maria und Pedros Vater freiließen! Und sie hatte sogar behauptet zu wissen, wer dieser Drahtzieher war.
Paolo Cingalez. Was für ein Wahnsinn! Nichts wusste sie doch in Wirklichkeit, schon gar nicht über diesen Cingalez!
Der Fluss machte eine Biegung und dahinter brach ihnen grelles Licht entgegen. Carmen kniff die Augen zusammen. Wie scheußlich das blendete nach den Stunden in der Dunkelheit! Und was war das überhaupt für ein seltsames Licht – ein Durcheinander aus gleißendem Weiß und Grün.
Der Kanal wurde weiter und mündete in
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