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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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konnte, wie sie das anstellen sollten: ohne Leiter aus diesem Loch zu fliehen und dann draußen vor aller Augen die endlose Kratertreppe wieder runter. Und selbst wenn sie es bis hinab zum Cenote schaffen würden, dann hätten sie noch lange kein Boot. Und auch mit einem Boot wären sie in dem unterirdischen Labyrinth doch verloren. Nein, abhauen konnten sie bestimmt nicht, dachte Carmen, und sowieso könnten sie doch Maria und Pedros Vater nicht einfach hier im Stich lassen – jetzt, wo sie sich zumindest bis hierher durchgeschlagen hatten!
    »Jaguarpriester sind ja immer Zwillingspaare.« Pedro flüsterte es, seine Lippen ganz nah an ihrem Ohr. »Abgesehen vom obersten Jaguarpriester. Und alle Zwillinge müssen reihum verschiedene Arten von Tempeldienst versehen. Copal anzünden – das ist so was wie Weihrauch – und in Gefäßen schwenken. Tanzen natürlich oder die vorgeschriebenen Zeremonien mit Opferbechern und anderen Sachen ausführen. Aber eine Aufgabe gibt es, die ist einfach ganz grässlich. Eigentlich sollte sie auch reihum ausgeführt werden, aber als dann die Sache mit unseren Vätern – und dem Jaguar – passiert ist, da haben sie anscheinend beschlossen, dass nur noch Ixom und Kanaas diesen einen Tempeldienst ausführen sollten.«
    Irgendwo weit über ihnen erklangen auf einmal Trommelschläge.
    Dumpf, gleichmäßig, ganz allmählich schneller werdend – wie das Herz eines erwachenden Riesen.
    »Und was -?« Die Kehle zog sich Carmen so eng zusammen, als ob sie gewürgt würde. »Und was ist das für ein Dienst?«
    Pedro richtete sich auf und ging einen Schritt zurück. Sie hörte wieder das Patschen im nassen Moos und sah seine Augen, die jetzt über ihr im Dunkeln schwebten. »Ich hab es mir erst hier zusammengereimt. Genau weiß ich’s ja auch nicht, aber… ich fürchte, Carmen, dass Ixom und Kanaas für das Opferblut zuständig waren.
    Und dass sie uns deshalb mitgenommen haben: damit im Jaguartempel jetzt unser Blut geopfert wird.«
    Der Trommelrhythmus wurde schneller und drängender. Immer mehr Trommeln kamen dazu. Der ganze Fels, der ganze Krater schien zu dröhnen und zu vibrieren.
    »Unser Blut?«, wiederholte Carmen. »Du meinst – wie lebendige Blutkonserven? Damit sie einem immer was abzapfen können, wenn sie’s gerade brauchen?« Pedros Augen gingen langsam zu und wieder auf. »Und deshalb«, fuhr Carmen fort, »sind die Zwillinge am Rücken so grässlich zugerichtet? Weil diese Irren sie da gepeitscht oder geschlagen haben – damit ihnen das Opferblut aus dem Rücken spritzt?« Sie hatte das Gefühl, dass sie gleich anfangen würde zu schreien – keine Worte, sondern einen schrillen, tierischen Schrei, der niemals mehr aufhören würde.
    Pedro war wieder zu ihr herangekommen und kauerte vor ihr im Moos. Anscheinend wollte er seine Arme um sie legen, aber jetzt sprang Carmen auf und drückte sich mit dem Rücken gegen die feuchte Wand. »Das meinst du doch nicht wirklich, oder?« Die Trommeln draußen wurden immer lauter, ihr Rhythmus immer jagender. Aber sie waren gar nicht draußen – sie donnerten überall hier drinnen, dachte Carmen, in diesem Berg, in diesem Felsloch, in ihrem Körper, überall.
    »Ich glaub, sie nehmen Messer«, flüsterte Pedro. »Sie schneiden einem Muster in den Rücken. Bilder, Zeichen. Die Glyphen der alten Schrift, weißt du?« Er sprach so leise, dass im Dröhnen der Trommeln kaum etwas zu verstehen war. »Jedenfalls kam es mir vorhin so vor, als Ixom ihr Gewand ausgezogen hat.«
    Die Trommeln dröhnten jetzt so wild, dass der Boden unter ihnen zu beben schien. Pfiffe mischten sich unter die dumpfen Schläge, ein Heulen und Jaulen wie von tausend Dschungeltieren.
    »Vielleicht hab ich mich ja auch getäuscht«, flüsterte Pedro. »Als ich in Ixoms Haut diesen Jaguar gesehen hab. Wie er auf ihr kauert und ihr seine Zähne zwischen die Schultern schlägt.«
     
    Niemals hätte Carmen geglaubt, dass man in einer solchen Lage einfach schlafen könnte. In so einem nassen Bergloch, zitternd vor Angst und ganz ausgehöhlt vor Hunger und Erschöpfung. Während die Trommeln dröhnten, die Flöten heulten und jaulten und tausend Leute wild durcheinander schrien – offenbar hatte das Fest schon begonnen, zu Ehren des Maisgottes, dem Maria und Pedros Vater morgen geopfert werden sollten.
    Und doch war es nicht anders: Sie kauerten sich wieder auf den klammen Boden, lehnten sich mit dem Rücken gegen die genauso feuchte Wand. Pedro hielt Carmens linke Hand

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