Gößling, Andreas
jetzt ganz fest in seiner rechten. Schon fielen ihr die Augen zu. Der Kopf sackte ihr auf die Brust.
»Carmen?« Sie antwortete nur noch mit einem Brummen. »Wir kommen hier wieder raus, ganz bestimmt«, sagte Pedro leise. »Das spür ich genau. Dass alles gut ausgehen wird. Auch für meinen Vater und für deine Mutter. Hörst du?«
»Hmmm«, machte Carmen. Sie fand es lieb von ihm, wie er sie zu trösten und aufzumuntern versuchte. Aber sie war so fürchterlich müde, dass sie nicht mal mehr ein Lid heben konnte. Geschweige denn ihren Kopf, der ihr so schwer schien wie der ganze volle Mond.
»Mir ist noch was eingefallen.« Pedro streichelte ihren Handrücken mit einem Finger, ohne sie loszulassen. »Dieser Cingalez, von dem du immer redest – also ich glaub, den Namen hat mein Vater auch schon erwähnt. Vielleicht hab ich den sogar schon mal gesehen – kann sein, dass der mal bei uns zu Hause war. In Santa Elena. Ist das so ein kleiner, schnurrbärtiger Typ, der immer helle Anzüge trägt? Carmen?«
»Mhmm-mhmm?«, machte Carmen. Sie sah Cingalez vor sich, in seinem hellen Anzug, mit dem sorgfältig gestutzten kleinen Schnauzbart, unter dem der Mund eifrig auf-und zuging. »Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich!«
»Was sagst du?« Pedro gähnte. »Die hellen Anzüge jedenfalls – die haben meinem Vater imponiert. Ja, ich glaub, das war wirklich dieser Cingalez. Irgendwann hat Vater sich auch so einen Anzug zugelegt. Den wollte er dann möglichst immer anziehen – sogar wenn er einen von den Archäologen rausgefahren hat in den Wald…«
Mehr hörte Carmen nicht, denn jetzt schlief sie wirklich und unaufhaltsam ein. Schon während Pedros letzter Worte begann sie zu träumen. Wieder lief Maria durch den Wald und Cingalez rannte hinter ihr her. Der ganze Dschungel zitterte und wackelte, so laut dröhnten die Trommeln. Aber nein, dieser Mann war ja gar nicht Paolo Cingalez. Er trug einen hellen Anzug, doch es war Xavier Gómez, Pedros Vater. Jetzt erreichte Maria die Lichtung, es sah alles genauso aus, wie Carmen es schon einmal gesehen hatte. Die frische Grabstelle unter dem Baum mit den kleinen orangefarbenen Früchten, daneben Gestrüpp, links davon eine riesige Ceiba. Jetzt kam auch Gomez auf den kleinen Platz im Wald. In der Hand hielt er ein schlammfarbenes Bündel. Die Maske des Maisgottes? Er wickelte das Bündel auf und da kam eine goldene Scheibe zum Vorschein, so groß wie Marias Hand, auf die er das funkelnde Ding legte. Die Trommeln dröhnten immer noch, die Bäume schwankten und wankten regelrecht gegeneinander. Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes.
Maria drehte Gomez plötzlich den Rücken zu und sah Carmen ins Gesicht. So wie wenn im Film jemand in die Kamera guckt, um sich direkt an die Zuschauer zu wenden. Na so was, träumte Carmen, was für ein komischer Traum! »Mit diesen Informanten kannst du verrückte Sachen erleben«, sagte Maria und winkte mit beiden Händen in Carmens Richtung ab. »Der eine gibt dir einen angeblich todsicheren Tipp, wo eine ganze Maya-Stadt unter Wald und Schlamm begraben sein soll.« Sie machte eine Geste, als ob sie mit der hohlen Hand etwas über ihre Schulter schaufeln würde. »Damit du ihm glaubst, drängt er dir sogar eine Götterfigur oder so was auf, das er dort aus einem Tempel geholt haben will. Und das alles bekommt dann aber ein anderer dieser Leute spitz und fängt an dich zu belauern, weil er auf diese Weise herauszubekommen hofft, wo der Schatz seines Rivalen versteckt ist.« Sie machte ein verschwörerisches Gesicht und sah verstohlen über ihre Schulter. »Verrückt, ich sag es ja. Jedenfalls musst du dich mit dem einen hinter dem Rücken des anderen treffen. Die kleinen Schätze, die er dir aufdrängt, damit du ihn überhaupt anhörst, musst du sogar verstecken, damit du nicht plötzlich in eine ganz blöde Sache reingezogen wirst. Vor kurzem hab ich tatsächlich ein paar solcher Schätzchen im Wald vergraben – neben einer riesigen Ceiba, unter einem Ramónbaum. Weißt du, das sind die Bäume mit diesen kleinen Früchten, die wie orangegelbe Kirschen aussehen. Ich hatte eine Heidenangst, dass ich die Stelle nicht wieder finden würde. Deshalb hab ich mir alles möglichst genau eingeprägt: die Ceiba, das Gestrüpp, den Ramónbaum.« Maria lachte laut und unbekümmert. Ihr Lachen wurde immer lauter, bis der ganze Wald davon widerhallte. Carmen versuchte sich die Ohren zuzuhalten und über diesem vergeblichen Versuch wachte sie
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